Klasse Arbeit
60 Pfennig zu wenig - muss 1 Mark
Forderung von ArbeitsmigrantInnen
Ford-Streik 1973
In allen gesellschaftlichen Verhältnissen immer schon präsent, geht der Klassenkampf den historischen Klassen voraus. Welche Formen er annimmt, hängt an der jeweiligen politökonomischen und ideologischen Konjunktur. Dass derzeit der Klassenkampf von oben Konjunktur hat, braucht man nicht näher zu begründen, Hartz I-IV, Rürup-, Herzog- und sonstige Programme sprechen für sich. Hält man sich an die Verlautbarungen von BDI-Tagungen, ist damit allerdings erst ein Anfang gemacht - wenn sich dem Klassenkampf von oben nicht auch ein Klassenkampf von unten entgegensetzt. Mit dem aber stehtÆs in Deutschland nicht zum Besten: Die in Form und Inhalt gerade eben pflichtschuldigen Proteste der Gewerkschaften, der auch an internen Widersprüchen in der IG Metall gescheiterte Streik in der ostdeutschen Metallindustrie und das vergleichsweise schwache Niveau globalisierungskritischer Bewegung legen davon Zeugnis ab. Doch auch von linker Seite wird wenig getan, das Blatt zu wenden. Nur noch als jämmerlich verdient bezeichnet zu werden, was vom letzten Aufgebot der "parlamentarischen Linken" in SPD, grüner Partei und PDS als "Widerstand" inszeniert wird - solches Muckertum dürfte selbst in mediendemokratischen Zeiten kaum Karriereaussichten eröffnen. Viele radikale Linke wiederum halten sich bedeckt, aus Furcht, mit einem Einspruch gegen den Generalangriff auf die kollektiven Sicherungssysteme vor den Karren sozial-staatstragender Politik gespannt zu werden. Daran ist immerhin wahr, dass der Klassenkampf von oben weder zu bremsen noch zu brechen sein wird, wenn man sich auf die Verteidigung des fordistischen Wohlfahrtsstaats beschränkt. Wie aber macht man Klassenkampf von unten? Wie erobert die Linke ihr eigenstes Feld zurück? Landvermessung ist angesagt. Fantômas 4 stellt dafür Navigationskarten bereit, zur vorläufigen Orientierung in unwegsamem Gelände.
I.
Der Rückzug, gar die Flucht vieler Linker vom angestammten Kampfplatz sozialistischer, sozialrevolutionärer oder kommunistischer Politik ist zu weiten Teilen die Folge des Scheiterns ihrer Klassenkampfkonzepte an der Klassenrealität. Dieses Scheitern hängt in seinem Kern an einem doppelten Fehlgriff in der Bestimmung der Subjektivität sozialer Kämpfe. Zum einen wurde "das Proletariat" soziolog(ist)isch auf die abhängig Beschäftigten der fordistischen Fabrik, den weißen, männlichen Facharbeiter verengt: eine Ausgrenzung gleich nach mehreren Seiten hin, die sich theoretisch wie politisch fatal auswirken musste. Der dergestalt zurechtgestutzte Proletarier wurde dann - teils infolge der soziologischen Verkürzung, teils gegen sie - geschichtsphilosophisch überhöht und zum "auf die Füße gestellten" Weltgeist verklärt. Der sollte - dem religiösen Vorbild folgend - das Leiden der ganzen Menschheit auf sich nehmen und im Durchgang durch die absolute Entfremdung die Wiederaneingung des "Menschenwesens" vollziehen. Den Abstand zwischen dem real existierenden ("an sich") und dem philosophisch idealisierten ("für sich") Proletariat mussten dann Partei und Staat überbrücken, mit den bekannten und noch immer nicht ausgestandenen Folgen.
Aus solcher Mixtur gebraute "Klassenanalysen" hatten in der Nach-68er Geschichte der Linken Hochkonjunktur, wegen und trotz der Septemberstreiks von 1969 und des wilden Streiks bei Ford 1973, die vor allem von ArbeitsmigrantInnen geführt wurden. Das schlug sich in der "proletarischen Wende" der Außerparlamentarischen Opposition nieder, in der die Linke - auch das für sich nicht ganz falsch - die durch Faschismus, Weltkrieg und Nachkriegsrestauration abgerissene Verbindung zur historischen ArbeiterInnenbewegung wiederaufzunehmen suchte. Das war die Zeit, in der sich das IMSF (Institut für marxistische Studienforschung) und das PKA (Projekt Klassenanalyse) bis auf die zweite Stelle nach dem Komma darum stritten, wie hoch der quantitative Anteil der ArbeiterInnenklasse an der bundesdeutschen Bevölkerung ist.
Der an den wirklichen Subjektivitäten und ihren widersprüchlichen sozialen Positionen meilenweit vorbeischießenden Zuschreibung rrrrevolutionären Bewusstseins entsprach dann nahezu zwangsläufig die vollständige Pulverisierung von Klassenanalyse und Klassenpolitik ab den 80er Jahren. Die autonom gewordene jugendliche Dissidenz geriet in der Verweigerung fordistischer Normalbiographien mit ihrer unseligen Mischung aus Produktivismus und Konsumismus in direkten Widerspruch zu fast allem, wofür das real existierende wie das imaginäre Industrieproletariat stand. Dieser Widerspruch verbreiterte sich in "alternativen" Bedürfnissen, die sich in Öko-Revolten ausdrückten. Schließlich fiel es den Feministinnen zu, das ganze Ausmaß sowohl der repressiven Ausgrenzungen wie der idealisierenden Überspannung im Klassendiskurs offen zulegen. Nicht nur, aber auch und gerade in der feministischen Kritik seiner Bestimmung des Verhältnisses von "produktiver" und "reproduktiver" Arbeit wurde klar, dass und wie der proletarische Universalismus patriarchale Partikularismen verdeckte und beförderte.
Der lange schon überfälligen Aufklärung folgte die Resignation auf dem Fuß. "Ohne die theoretischen Sackgassen, in die die westdeutsche Linke in den 70er Jahren mit Verbissenheit und geradezu kontrafaktischen Optimismus hineingestürmt war, lässt sich das aktuelle Interesse an klassenjenseitigen Konfliktlinien nicht hinreichend erklären", bilanziert die daran nicht unbeteiligte Zeitschrift PROKLA Mitte der 80er Jahre. Seinen Gründungsnamen "Probleme des Klassenkampfs" hatte das gleichwohl lesenswerte Blatt schon 1976 in den Untertitel verlegt.
II.
Für die Außer-Kurs-Setzung von Klassenanalyse und Klassenpolitik war und ist allerdings von mindestens ebenso großer Bedeutung, dass viele Linke im hochflexiblen postfordistischen Kapitalismus ungewollt Pionierpositionen einnehmen. Dieser funktioniert weniger durch eine für alle gleiche Disziplinierung und Normalisierung als durch die Verlagerung der Kontrolle in die Individuen selbst. Die aber ist subjektiv oft mit einem Freiheitsgewinn verbunden, in dessen Genuss verdrängt wird, dass die erweiterte Selbstbestimmung zu fremdbestimmten Zwecken verausgabt wird. Patchwork-Existenzen sind heute selbstverständlich geworden, flexibilisierte Lebenswege, wo man hinschaut. Wir basteln uns unseren Job selbst, arbeiten in Hochphasen 16 Stunden am Tag und haben auch noch Spaß dabei. Die strikten Trennungen von Arbeit und Beruf, Arbeit und Freizeit sind längst schon aufgebrochen, private und Berufsinteressen überlappen sich ebenso wie Arbeit und Reproduktion. Begriffe wie Eigenverantwortung und Selbstständigkeit - dem Fabrikgefängnis abgetrotzt - sind zur kaum hinterfragten Orientierung des eigenen Lebensentwurfs geworden. Klar ist zugleich, dass man vom neoliberal gewendeten Staat nichts zu erwarten hat: eine Einsicht, deren Bedeutung nicht wenige Linke unterschätzen, weil sie vom repressiven Charakter des von oben liquidierten Wohlfahrtsstaats - zu Recht! - ihr Lied zu singen wissen. Man hat gelernt, sich auf diese Situation einzustellen und damit umzugehen.
Die Distanz zu denen, die am stärksten von Hartz, Rürup, Herzog und anderen "verdammten Ficksäuen" (vgl. ak 477, S. 33) gepeinigt werden, ist in lebensweltlicher Erfahrung von Mittelschichts-Linken nur bedingt zu überbrücken. Warum sich für etwas engagieren, das scheinbar mit meinem Leben nichts oder nur wenig zu tun hat? Ach, die Einheit der Klasse... kann, was nie war und nicht ist, werden? Eben! Oder?
Unter den Bedingungen einer erstmals im Vollsinn globalisierten Arbeitsteilung muss linke Theorie und Praxis - so der Vorschlag dieses Heftes - (wieder) damit beginnen, die hochgradig ausdifferenzierten transnationalen Klassenverhältnisse und deren ideologische Wahrnehmung auf allen Seiten in den Blick zu nehmen. Dazu gehören die Arbeitsbedingungen in traditionellen Großbetrieben ebenso wie die in der Gastronomie, der Prostitution, im Baugewerbe und im - wie man so sagt - "privaten Bereich". Ohne Bezug auf die umkämpfte Autonomie der Migration und die voranschreitende Prekarisierung der Arbeit wird man dabei nicht auskommen. Im Anschluss an Fantômas 2 (Biopolitik) gehört dazu auch die qualitativ grundlegend veränderte Zusammensetzung "materieller" und "immaterieller" Arbeit und deren Folgen für Produktion und Reproduktion. Mit ihr stellt sich erneut die Frage nach Zusammenhang und Unterschied von "Klasse" und "Multitude". Da Klassenanalyse kein akademischer Selbstzweck ist, sind entsprechende Untersuchungen politisch auf die Frage zuzuspitzen, wie sich zwischen sozialen Kämpfen aus radikal unterschiedlichen Lebenswelten eine Kommunikation, vielleicht gar eine Koordination herstellen lässt. Nur unter dieser Frage lässt sich ermessen, inwiefern die Bewegung der Sozialen Foren das Experimentallabor auch einer "WeltarbeiterInnenbewegung" werden kann, deren Genossinnen und Genossen zwar ganz verschiedene Lebenssituationen zu verlieren, doch noch immer eine gemeinsame Welt zu gewinnen haben. Das Heft, so viel zum Schluss, markiert auf diesem Weg nicht mehr als einen ersten Schritt. Fortsetzung folgt!
Redaktion Fantômas