Fantômas Logo Fantômas - Magazin für linke Debatte und Praxis / Nr. 5 / Sommer 2004

Das Gespenst der Migration

Krise des Nationalstaats und Autonomie der Migration

Von Manuela Bojadzijev, Serhat Karakayali, Vassilis Tsianos

Fasst Giorgio Agambens Homo sacer die Migration im Modus ihrer Einschließung in den Lagern, geistert durch Hardt/Negris Empire ein "Gespenst der Migration" als permanente Freisetzung von Mobilität. Der folgende Beitrag aus der antirassistischen Gruppe Kanak Attak überprüft ihre Thesen aus der Perspektive der Kämpfe, in denen nicht nur der Platz der MigrantInnen ausgefochten wird.

Für Agamben befindet sich die bisherige Struktur des Nationalstaats, die sich auf den funktionalen Zusammenhang der Rechtsordnung des Staats, seines Territoriums und der Zugehörigkeit der Staatsbürger zur jeweiligen Nation gründet, in Auflösung. (1) Um die neue Funktionsweise von Macht und das neue Verhältnis zwischen Souveränität und Territorium bestimmen zu können, untersucht er das Verhältnis von Souveränität, Ausnahmezustand und Lager. Dabei verbindet er das juridisch-institutionelle Machtmodell traditioneller Staatstheorie mit Foucaults biopolitischem Machtmodell einer Disziplinierung der Bevölkerungen und der Körper. Tatsächlich kommen beide Modelle im Lager zur Anwendung, in dem der Ausnahmezustand, der eigentlich eine zeitweilige Aufhebung der Ordnung darstellt, eine permanente räumliche Verortung erhält: Lager sind Ausnahmebereiche innerhalb eines Territoriums, die sich dennoch außerhalb des Geltungsbereiches des Gesetzes befinden. Indem das Flüchtlings- oder Gefangenenlager seinen Insassen jeglichen rechtlichen oder politischen Status verweigert, reduziert es sie auf ihre physische Existenz und verwandelt dabei einen außerordentlichen Akt der Macht in eine ordnungsgemäße Technik des Regierens. Insofern ist das Lager ein Ort, in dem aus Rechtlosigkeit Recht geschaffen wird.

Hardt/Negri werfen Agamben vor, die Figur des Einschlusses überzubewerten und die Globalisierung auf ihre totalitäre Seite zu reduzieren. (2) Demgegenüber müsse Globalisierung auch als "Passage" verstanden werden. Die Passage ist kein "Übergang zu etwas", sondern selbst eine Produktionsweise bzw. die Gleichzeitigkeit verschiedener Produktionsweisen, in der - darin stimmen Hardt/Negri mit Agamben überein - der Biomacht, d.h. der machtförmigen Kontrolle der Produktion und Reproduktion des Lebens selbst, paradigmatische Bedeutung zukommt. Allerdings zeigen sie gegen Agamben gerade an den Prozessen der Illegalisierung der MigrantInnen wie der Abschiebepraxis gegenüber Flüchtlingen, dass die staatlichen Maßnahmen zur Regulierung der Bevölkerung und der Widerstand gegen solche Biomacht auf dem gleichen Feld operieren: "Während der gesamten Geschichte der Moderne haben die Mobilität und die Migration der Arbeitskräfte die Disziplinierungen, denen die Arbeiter unterworfen waren, gesprengt (...) Ein Gespenst geht um in der Welt, und sein Name ist Migration." (Hardt/Negri, S. 224f)

Zirkulationsprozess der Kämpfe

Dass diese Anrufung des Kommunistischen Manifests auch ironisch gelesen werden muss, zeigt ihre Platzierung im Text. Die Stelle findet sich in einem Kapitel, dessen Überschrift Intermezzo: Gegen-Empire lautet. Dieses Kapitel steht zwischen dem zweiten und dem dritten Teil des Buches, d.h. zwischen den Passagen der Souveränität und den Passagen der Produktion. In diesem Intermezzo (Zwischenspiel) gestehen die Autoren zum einen, bis jetzt nicht in der Lage gewesen zu sein, "schlüssig aufzuzeigen, welcherart politische Subjektivitäten die Mächte des Empire herausfordern und überwinden könnten, denn diese Subjektivitäten werden nur im Bereich der Produktion zu finden sein." (ebd., 217) Und sie räumen ein, dass die Figuren, in denen sie die Modi des Widerstands denken, Figuren der Mobilität sind: Nomadismus, Desertion und Exodus. Deren politische Bedeutung aber, das ist unsere These, lässt sich erst dann belegen, wenn man auf den operaistischen Begriff der "Klassenzusammensetzung" zurückgeht.

Mit der Theorie der Klassenzusammensetzung bzw. -neuzusammensetzung gewannen die OperaistInnen neue Analyseinstrumente für die Fragen der Spaltung bzw. Einheit der ArbeiterInnenklasse und der politischen Überdeterminierung der ökonomischen Prozesse der Arbeitskraftallokation, d.h. ihrer Verteilung in unterschiedlichen Verwendungen. Das gelang ihnen, weil sie die horizontale Arbeitsteilung nicht als Resultat technologischer Neuerungen, sondern umgekehrt die "technische Zusammensetzung des Kapitals" als Verfestigung eines politischen Kräfteverhältnisses zwischen den Klassen erklärten. So wurde sichtbar, dass und wie sich die ArbeiterInnenklasse politisch in permanenter Neuzusammensetzung befindet, auf die das Kapital mit einer kontinuierlichen Umstrukturierung des Arbeitsprozesses reagiert. Diese stete Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse bezeichneten die OperaistInnen als den "Zirkulationsprozess der Kämpfe". Erst in seiner Perspektive kann die Frage der Fragmentierung der Arbeiterklasse für eine emanzipatorische Politik fruchtbar gemacht werden, und zwar gerade unter den Gesichtspunkten der Migration und der Geschlechterverhältnisse. Will man dabei allerdings die Reproduktion des Schemas Etatismus vs. Anti-Etatismus vermeiden, muss die Analyse unserer Auffassung nach die Perspektive einer a-staatlichen Politik einnehmen, deren Referent nicht mehr die Präsenz der Arbeiterklasse im Staat ist, sondern neue Formen der politischen Repräsentation, die man mit dem Begriff der Multitude nur vorgreifend fassen kann.

Das Beispiel Almanya

Verdeutlichen kann das ein Rückblick auf das fordistische "Gastarbeiter"-System in Almanya. Dabei ging es um einen nationalistisch überdeterminierten Kompromiss, der sich in einer spezifischen Arbeitsteilung artikulierte. Die MigrantInnen verrichteten tendenziell die mit Handarbeit verbundenen Tätigkeiten, die einheimischen Arbeiter stiegen zu KopfarbeiterInnen auf. Genau dieses Wahrnehmungsschema aber verstellte den Blick auf die praktische Kritik des "Gastarbeiter"-Systems. Denn das dieser Wahrnehmung entspringende "Unterschichtungs"-Paradigma - die GastarbeiterInnen "unterschichten" die einheimischen ArbeiterInnen - konnte die wilden Streiks und die Revolten der MigrantInnen weder konzeptionell fassen noch praktisch nutzen. Das "Gastarbeiter"-System wollte die Zerstreuung, die Tendenz zur Neuzusammensetzung der Trennung von Hand- und Kopfarbeit durch die Kontrolle der Mobilität regulieren. Dabei sollten das Rotationsverfahren, die Visaregelungen und das Ausländergesetz nicht nur die internationale und grenzüberschreitende, sondern auch die sektorale Mobilität innerhalb der Produktionsapparate begrenzen. Tatsächlich aber entzogen sich die MigrantInnen diesem Kontrollversuch und unterliefen die temporäre Begrenzung der Migration, mit der sie auf den Status einer flexiblen Reservearmee festgelegt werden sollten. So wurde in der Bundesrepublik Deutschland 1973 zwar ein allgemeiner Anwerbestopp für Gastarbeiter ausgerufen, doch reorganisierten die MigrantInnen ihre Bewegungsfreiheit in Form der Familienzusammenführung. Diese "Autonomie der Migration", so Yann Moulier Boutang, "zeigt sich in ihrer Selbstständigkeit gegenüber den politischen Maßnahmen, die darauf zielen, sie zu kontrollieren. Migration unter dem Gesichtspunkt ihrer Autonomie zu betrachten, bedeutet, die sozialen und subjektiven Dimensionen der Migrationsbewegungen zu betonen." (3) Die Betonung liegt dabei auf Bewegungen, weil der Begriff der "Autonomie der Migration" von ihren Konstitutionsbedingungen innerhalb des kapitalistischen Arbeitsprozesses ausgeht, nicht aber ein Subjekt (Staat vs. MigrantInnen) unterstellt.

Betrachtet man die Migration nicht als Anhängsel ökonomischer Prozesse, nicht als Spielball von Push- oder Pull-Effekten, sondern als "Exodus" im Sinne Hardt/Negris, ergibt sich eine historische Analogie zum "Exodus" der ArbeiterInnen aus den Fabriken, aus den Normalarbeitsverhältnissen und den patriarchalen Verhältnissen, die vom Operaismus als Revolte gegen die Fabrikdisziplin und die an sie gekoppelten Lebensweisen interpretiert wurde. War der Exodus aus der Fabrik eine Flucht aus dem sozialpartnerschaftlichen Kompromiss des Fordismus, der die Disziplin der Arbeit gegen ihre sozialstaatliche, relative Absicherung erkaufte, so ist der migrantische Exodus die Aufkündigung desselben Kompromisses - diesmal gegen die nationalstaatlichen Grenzen gerichtet.

Undocumented Migration - Migrants without documents

Nimmt man die Perspektive des (Post-)Operaismus ein, nach der es für die Entwicklung der Geschichte, des Staates oder der Ökonomie keine objektiven Gesetzmäßigkeiten gibt, liegt es nahe, sie nach der Formulierung des Kommunistischen Manifests als eine Geschichte der Kämpfe zu betrachten. Die Revolten der Bauern gegen ihre Enteignung im Spätmittelalter, die bis zur Französischen Revolution fortgeführten Kämpfe der Bettler und mobilen Arbeiter gegen die Vagabondagegesetze und der Klassenkampf der Arbeiterbewegung haben sich eingeschrieben in die Geschichte der Herrschaft. Dabei bestimmen sich die permanente Weiterentwicklung staatlicher Unterwerfungspraktiken und der sich stets auf andere Weise neu herstellende Kompromiss mit den Subalternen aus der Dynamik der Widerstände. Bezieht man das auf das Verhältnis von Migrationsregime und Autonomie der Migration, reicht es nicht aus, nur einen der beiden Pole zu fassen: Die von Hardt und Negri betonte Autonomie der Migration existiert offensichtlich nicht ohne die Politik der Kontrolle, deren Extremform Agamben im Lager analysiert - und andersherum. Das Verhältnis zwischen beiden, ihre Bewegungsform, kann man nur bestimmen, wenn man den modus operandi des Migrationsregimes in den Blick nimmt. Dieser kreist um die Frage der Arbeit. Heute überqueren täglich tausende MigrantInnen zu Fuß oder mit Linienflügen, mit dem Zug oder schwimmend die angebliche Festung Europa auf der Suche nach einem besseren Leben oder nur einem besseren Einkommen. Viele sind Pendler, die mit einem Touristenvisum einreisen und nach Ablauf des Visums in Europa bleiben. Millionen leben bereits hier und arbeiten unter widrigen, oft niederträchtigen Bedingungen in irregulären Beschäftigungsverhältnissen im unteren, schlechtbezahlten Segment des Markts der personenbezogenen Dienstleistungen. Die Sans Papiers arbeiten in Hotels, im Haushalt, als SexarbeiterInnen, nur in ganz wenigen Fällen in der klassischen industriellen Fertigung. Sie sind oft hoch qualifiziert, können ihren Berufen aber nicht nachgehen. Wie schon in der klassischen, offiziellen Arbeitsmigration der Nachkriegszeit akzeptieren viele MigrantInnen die schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen, solange sie selbst eine kurz- oder mittelfristige Perspektive für ihren Aufenthalt haben. Sobald sie merken, dass die Vorstellung, nach einigen Jahren mit einer großen Menge angespartem Geld wieder zurückzukehren, nicht mehr haltbar ist, ändern sie ihre Haltung. Wer bleiben will, wer seine Kinder in die Schule schicken will, wer "normal" leben will, muss um seine Rechte kämpfen. In vielen Ländern Europas sind seit dem Ende der neunziger Jahre daher Kämpfe um Legalisierung aufgeflammt, die mal in Niederlagen, mal in Erfolgen, meist einer Mischung aus beidem endeten. Entscheidend ist nun aber, dass diese Kämpfe sich auf einem Terrain abspielen, das nicht einfach in einer Opposition Staat vs. Multitude gedacht werden kann. Worauf es ankommt, ist zu verstehen, unter welchen Bedingungen die Migration sich organisiert, und das verlangt, die Modalitäten in den Blick zu nehmen, denen die Migrantinnen angesichts der Kontrollanstrengungen der europäischen Staaten sich gegenübersehen. Beruhte das Migrationsregime der "Gastarbeiter"-Anwerbung auf einem sozialpartnerschaftlichen und nationalen Kompromiss, gilt es heute, die Konturen desjenigen Kompromisses zu zeichnen, der die Migration illegalisiert. Setzt man die Migrationsbewegungen dagegen einfach in Opposition zum Empire, hätte der Kompromiss bloß die Funktion, ihre Dynamiken zu unterbrechen und zu sabotieren. Praktisch aber haben die MigrantInnen in ihren Kämpfen um Mobilität und Bürgerrechte den Kompromiss historisch unaufhörlich verschoben. Hier kommen die Überlegungen ins Spiel, die Etienne Balibar in seinem jüngsten Buch Sind wir Bürger Europas? anstellt. (4) Dort entwirft er vier "Baustellen der Demokratie" im Zusammenhang mit dem fortschreitenden Konstitutionsprozess der Europäischen Union. Neben der Rechtsfrage und einer "Sprache Europas" geht es ihm dabei um eine gesamteuropäische Reorganisation der Arbeitszeit und um eine "Demokratisierung der Grenzen". Seit den Streiks 1995 in Frankreich zeige sich, dass die Ausrichtung der Arbeitskämpfe unter Berücksichtigung der Zusammenhänge von Bürgerschaft und "Beruf" überprüft werden muss: "Die Wende in der europäischen Bürgerschaft fällt de facto mit der Krise des nationalen Sozialstaats zusammen, in dem die mehr oder weniger effektive Lösung der ésozialen FrageÆ die Reproduktion der Nationform ermöglichte, während gleichzeitig der Nationalstaat eine bestimmte Definition der Arbeit und des Arbeiters kodifiziert und sanktioniert hat." (ebd., 284 f.) Die Frauen- und Ökologiebewegungen, aber auch die Kämpfe der Migration haben sich historisch gegen die zentrale Bedeutung der produktiven Arbeit und die Ausschließlichkeit klassischer Klassenkampfkonzeptionen gerichtet, sie aber nicht völlig negiert, sondern in einen neuen Zusammenhang gestellt und erweitert. Angesichts der Krise des europäischen Sozialmodells könne deshalb nicht von einem "Ende der Arbeit" gesprochen werden. Dabei verweist Balibar explizit auf Hardt/Negris Begriff der "immateriellen Arbeit": Wenn produktive Arbeit zugleich "Produktion von Gesellschaftlichkeit" wird, geht es nicht mehr nur um die Herstellung materieller Existenzmittel, sondern auch um potenziell politische Praxis: "Das Prinzip, das man hier einmal mehr formulieren kann, kehrt das traditionelle Verhältnis von Tätigkeit und Hegemonie vollständig um: nicht arbeiten, um (Güter oder Werte) zu produzieren, sondern produzieren (Güter oder Dienstleistungen, Informationen, Erkenntnisse), um zu arbeiten, das heißt, ein bürgerliches Grundrecht wahrnehmen." (ebd., 285) Wenn die Arbeit sich ändert, müssen sich auch die Formen des gemeinsamen Kampfes ändern. Ein Konzept von Gemeinwesen und Bürgerschaft sei dafür nötig, das nicht auf Integration und Konsens beruht (ebd., 135 ff.), sondern den "Bürger" vom transnationalen Standpunkt als politisch aktiven Kämpfer vorstellt. Die materielle Grundlage einer für Immigranten offenen "Bürgerschaft in Europa" (im Gegensatz zu einer "europäischen Staatsbürgerschaft") bilde die Aushandlung von Grenzübertritten für Migrationsbewegungen, die ein neues Aufenthaltsrecht schaffe, mit dem Ziel, eine Veränderung des historischen Verhältnisses der Bevölkerung zum Territorium zu finden. Letztlich, zunächst, nicht mehr als ein Kampf aus dem Inneren des Migrationsregimes heraus, der seine Grenzen zu überschreiten versucht.

Manuela Bojadzijev, Serhat Karakayali und Vassilis Tsianos leben in Frankfurt und machen Politik und Theorie bei Kanak Attak (www.kanak-attak.de) und der Gesellschaft für Legalisierung (www.rechtauflegalisierung.de). In Fantômas 2/2002 schrieben sie über Endlose Pfade. Für das Recht auf Legalisierung des Aufenthalts.

Anmerkungen:

1) Agamben, Giorgio, Homo sacer. Frankfurt am Main, 2002.

2) Hardt, Michael /Toni Negri, Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt am Main, 2002, S. 373ff.

3) Moulier Boutang, Yann, Nicht länger Reservearmee. Thesen zur Autonomie der Migration und zum notwendigen Ende des Regimes der Arbeitsmigration. In: Subtropen 04/2002.

4) Balibar, Etienne, Sind wir Bürger Europas? Politische Integration, soziale Ausgrenzung und die Zukunft des Nationalen. Hamburg, 2003.