Von Althusser bis Zivilgesellschaft. Glossar
Althusser, Louis (1918 - 1990) versuchte zu Beginn der 60er Jahre den Marxismus durch den Rückgriff auf die Psychoanalyse und den Strukturalismus zu erneuern. Dabei richtete er seine Angriffe sowohl gegen den stalinistischen "Vulgär-Ökonomismus" des autoritären Marxismus als auch gegen Spielarten eines humanistischen Marxismus, die sich auf den Entfremdungsbegriff des frühen Marx bezogen. Erstere kritisierte er, weil deren Basis-Überbau-Konzeption zu einem Determinismus führe. Letztere, weil sie in ihrer Orientierung am entfremdeten Menschen den Klassenkampf und die Geschichte ausblendeten. Vor allem mit seiner Ideologietheorie gelang es ihm, die Debatten zu beeinflussen. 1977 rief A. die "Krise des Marxismus" aus, um den doktrinären Parteikommunismus zu provozieren. Die Krise bestand für ihn in dem unaufgearbeiteten Verhältnis von Marxismus, Staat und GULAG einerseits und dem Auftauchen von neuen sozialen Bewegungen jenseits der Arbeiterbewegung andererseits.
Autonomie, im Wortsinn Selbstgesetzgebung, Selbstbestimmung im Gegensatz zu Heteronomie, Fremdbestimmung. Begriff der europäischen bzw. bürgerlichen Philosophie, die A. zur Eigenschaft menschlicher Subjekte erklärte. Später zentraler Begriff der Neuen Linken, besonders des italienischen Operaismus, der unter "Arbeiterautonomie" die Fähigkeit der Arbeiterklasse zur selbstbestimmten politischen Aktion gegen den Staat und die traditionellen Arbeiterorganisationen verstand. ArbeiterA. ist aber keine Eigenschaft der Arbeiter(-subjekte), sondern ihrer Aktion, und das Verhältnis von A. und Heteronomie kein äußerliches, sondern ein innerliches: die A. der Arbeiter bestimmt in ihrem Gegensatz zum Staat und zu den traditionellen Arbeiterorganisationen deren konkrete Form. Der Begriff "A. der Migration" funktioniert nach derselben Logik. Der Witz dabei: Obwohl A. immer erst errungen werden muss, geht sie der Heteronomie voraus, die immer nur Reaktion auf die Aktion der A. ist. Grundfehler (nicht nur) der deutschen Autonomen war, A. neuerlich als Eigenschaft eines Subjekts zu denken.
Distanz zum Staat, Versuch aus jüngerer Zeit, das Problem gesellschaftlicher Selbstbestimmung nicht mehr als Problem eines Übergangs zur Selbstbestimmung der Gesellschaft zu stellen. In D.z.S. verwirklicht sich gesellschaftliche Selbstbestimmung, indem ihre Akteure Staatsmacht weder ausüben noch abschaffen, sondern sie (die Staatsmacht) gerade dadurch beeinflussen, dass sie ihr aus dem Weg gehen, d.h. im Staat etwas anderes als Staat machen, den Staat durchlöchern. Anders gesagt: D.z.S. ist überall dort gewonnen, wo der Staat den Effekten einer Praxis unterworfen wird, die weder staatliche noch antistaatliche Praxis ist.
Etatismus meint eine Ausrichtung der politischen Praxis an den Staat. Diese Staatsfixierung war die dominante Politikorientierung sowohl in der sozialdemokratischen als auch in der kommunistischen Tradition der Arbeiterbewegung. Schon früh hatten die Anarchisten den E. in der SPD kritisiert. In der Weimarer Republik schüttete Tucholsky beißenden Spott über die SPD und deren E.: "Sie dachten, sie wären an der Macht, dabei waren sie nur an der Regierung." Ebenfalls gescheitert ist die e. Ausrichtung des Parteikommunismus. Sie glaubte, eine Eroberung der Staatsmacht würde zum Absterben des Staates führen. Die Neue Linke setzte gegen den E. eine Politik der Autonomie. Nach dem Scheitern des E. der nationalen Befreiungsbewegungen begann die Suche nach einer revolutionären Politik jenseits des E. Insbesondere die Zapatistas inspirierten viele radikale Linke.
Gouvernementalität, eine Wortschöpfung von Michel Foucault (1926 - 1984), zusammengesetzt aus den Begriffen "gouverner" und "mentalité". Damit wird ein widersprüchlicher Zusammenhang von Herrschaft und Subjektivierung bezeichnet, der typisch ist für moderne Machtregime. Eigentlich geht es darum, dass Menschen besonders effektiv dann beherrscht werden, wenn sie das Beherrschtsein selbst übernehmen. Ihre vollendete historische Form findet G., so weit sich das bislang absehen lässt, im Neoliberalismus, der den Imperativ zu Selbstführung, -management, -kontrolle, -regulation universalisiert. Gleichwohl geht G. zurück auf eine alte christliche Machttechnik: die Führung des Hirten über seine Herde, die idealerweise in der permanenten und selbständigen Gewissensprüfung der Schafe mündet. Im Anschluss an Foucaults programmatische Entwürfe hat sich in den letzten Jahrzehnten international ein eigenständiger Forschungszweig etabliert: die Gouvernementality Studies, deren theoriepolitisches Projekt von Neoliberalismuskritik bis Politikberatung reicht.
Gramsci, Antonio (1891 - 1937): Begeistert von der russischen Revolution stellte er sich schon frühzeitig die Frage, wieso alle kommunistischen Strömungen im Westen gescheitert sind. Er sah gravierende Unterschiede zwischen den Gesellschaften in Russland und den kapitalistisch entwickelten Staaten im Westen. Hier existierte im Gegensatz zu Russland eine stabile Hegemonie der bürgerlichen Gesellschaft mittels der Institutionen und Organisationen der Zivilgesellschaft. G. kritisierte den in der kommunistischen Bewegung vorherrschenden Ökonomismus. Viele von G. geprägte Begriffe wie "erweiterter Staat", "organischer Intellektueller" oder "Hegemonie" bestimmen die staatstheoretischen Debatten bis heute. 1926 zum Vorsitzenden der kommunistischen Partei Italiens gewählt, wurde er noch im selben Jahr von der faschistischen Regierung verhaftet. In der Haft schrieb er seine "Gefängnishefte", in denen er seine theoretischen Ergebnisse ausbreitete. Kurz nach der Haftentlassung 1937 starb er an den Folgen seiner Erkrankungen.
Poulantzas, Nicos (1936 - 1979), In Athen geboren, ging er Anfang der 1960er Jahre nach Frankreich, wo er bis zu seinem Freitod lebte. Argumentierte in doppelter Frontstellung: Einerseits gegen Positionen, die den Staat nur als Anhängsel des Kapitals begriffen, andererseits gegen solche, die Machtverhältnisse im Staat ausklammerten. P. betonte stattdessen die relative Autonomie der jeweiligen Staatsapparate und gesellschaftlichen Bereiche. Der Staat ist nie ganz im Besitz einer Klasse, sondern auch in sich widersprüchlich. Der Klassenkampf existiert auch innerhalb der Staatsapparate. P. interessierte sich dafür, wie es dem Block an der Macht trotz dieser Widersprüchlichkeit gelang, seine Hegemonie zu organisieren. In seinen späteren Studien behandelte er zunehmend Probleme, die die offensichtliche Krise des Marxismus mit sich brachte. Insbesondere aufgrund der Erfahrungen der portugiesischen Revolution 1974 und seines Engagements in Griechenland nach dem Zerfall der Militärdiktatur setzte er sich intensiver mit Fragen des demokratischen Sozialismus auseinander.
Reformismus, wörtlich: Streben nach sozialer Veränderung und politischer Neuordnung auf evolutionärem und eben nicht auf revolutionärem Weg. Die Reformistin strebt keine radikalen Umwälzungen an, sondern setzt von den gegebenen Bedingungen ausgehend auf schrittweise Verbesserung der politischen, sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen. Historisch ist der R. eine Hauptströmung der europäischen sozialistischen Arbeiterbewegung. Der Widerspruch zwischen "Reform" und "Revolution" zieht sich aber auch durch die Geschichte der Neuen Linken; diesen auszufechten geriet bisweilen zu ihrer Hauptbeschäftigung und führte zu einer endlosen Produktion von Spaltungen. Von R. zu sprechen macht allerdings nur dann Sinn, wenn soziale Verhältnisse wie minimal auch immer verbessert werden sollen. Insofern hat zumindest der klassische sozialdemokratische R., seitdem er seinen Restwiderspruch zum Kapital ganz aufgegeben hat, ausgedient.
Revolution und Staat, zentrales Dilemma der marxistisch-leninistischen Tradition, in der die vollständige Rücknahme des Staates in die sich selbst bestimmende Gesellschaft Endziel der geschichtlichen Entwicklung, d.h. der Revolution war. Auf dem Weg dahin musste die Revolution selbst Staat werden: Diktatur des Proletariats, die in der Zerschlagung des bürgerlichen Staates die eigene Selbstaufhebung betrieb. Historisch ohne Zweifel gescheitert, lebendig nur noch insofern, als die anderen Lösungsvorschläge für das Problem des Übergangs zur sich selbst bestimmenden Gesellschaft, Sozialdemokratie bzw. Reformismus einerseits, Anarchismus (unmittelbare Aufhebung jeder Staatsgewalt) andererseits, nicht weniger gründlich gescheitert sind. Nicht unwahrscheinlich, dass das Problem falsch gestellt ist.
Staatsapparate, repressive (RSA) und ideologische (ISA): Unterscheidung, die von Althusser in die marxistische Staatstheorie eingeführt wurde. Zu den RSA gehören die Institutionen, die traditionellerweise als "Staat" verstanden werden: Regierung, Militär, Polizei, Verwaltung, Gerichte, Gefängnisse. Diesen stehen eine Vielzahl von ISA gegenüber, die nach einer eigenen Logik funktionieren. Dazu gehören die Schulen, die Kirchen, die Parteien, Gewerkschaften, Medien und der Kulturbetrieb. Mit dieser Erweiterung des Staatsbegriffs hob Althusser die klassische Trennung zwischen Staat und Gesellschaft auf und hob die Bedeutung der ISA für die Reproduktion der bürgerlichen Gesellschaft hervor. Eine bloße Eroberung der Staatsmacht lässt die ISA unberührt. Diese stellen aber die Bollwerke der bürgerlichen Macht dar.
Transnationalisierung des Staates, transnationalisierter Staat ist genau genommen gar kein Staat, sondern etwas, das mit den Nationalstaaten und ihrem globalen Zusammenhang geschieht, ihnen widerfährt. Dazu kommt es allerdings, zumindest im Fall der dominanten Staaten des integrierten Weltkapitalismus, in der Folge nationalstaatlichen Handelns selbst, d.h. gerade nicht aufgrund einer über die Staaten hereinbrechenden Globalisierung. Transnationalisierte Staatlichkeit versucht, die "Omni-Krise" (Hardt/Negri) des Weltkapitalismus zu lösen. Der transnationalisierte Staat (der keiner ist) wird auch als "Ultraimperialismus" (Kautsky/Roth), als "ideeller Gesamtimperialismus" (Kurz), als "Weltsystem" (Wallerstein) oder als "Empire" (Hardt/Negri) bezeichnet. Die genannten Autoren verwenden den Ausdruck nicht, beschreiben aber in unterschiedlicher Perspektive den hier so genannten Prozess.
Weltsystem, darunter versteht Immanuel Wallerstein das kapitalistische System der weltweiten Arbeitsteilung. Das W. ist eine ökonomische Einheit mit einer einheitlichen Arbeitsteilung, aber keine politische Einheit, und es enthält mehrere kulturelle Subsysteme. Das moderne W. entstand im 16. Jahrhundert als Folge der Krise des Kapitalismus. Die historische Lösung bestand in der Bildung von Nationalstaaten, der geographischen Expansion und einer globalen Arbeitsteilung. Auch die Sowjetunion war nicht das Gegenüber, sondern nur ein Element des Weltsystems. Laut Wallerstein befindet sich das W. in einer fundamentalen Krise.
Zivilgesellschaft ist ein schillernder Begriff, der je nach Verwendungsweise einen völlig unterschiedlichen Bedeutungsgehalt hat. Z. im Sinne einer materialistischen Staatstheorie meint das Geflecht von Institutionen und Organisationen, die die Basis der bürgerlichen Gesellschaft sind. Dazu gehören Presse, Schulen, Kirchen und Sportvereine. In diesen Institutionen der "società civile" wird tagtäglich die herrschende Hegemonie reproduziert. Diese lässt sich nicht zentral von ihrer repressiven Seite her bestimmen. Vielmehr ist sie mit "Zwang gepanzerte Hegemonie". Die Z. ist bei Gramsci ein Struktur- und Herrschaftsbegriff. Normativ verstanden wird Z. vor allem in vielen NGOs und Menschenrechtsorganisationen. Dort wird Z. als der Raum betrachtet, der zwischen dem System "Ökonomie" und dem System "Politik" liegt. Diese Systeme haben sich angeblich verselbständigt und können nicht mehr miteinander kommunizieren. Die Z. fungiert deshalb in diesen Vorstellungen als Übersetzer oder als Moderator zwischen den Systemen "Politik" und "Ökonomie".
Wer mehr über Giorgio Agamben, Gilles Deleuze, Disziplin, Empire, Michel Foucault, Kontrollgesellschaft, Toni Negri/ Michael Hardt wissen möchte, schaut ins Glossar in Fantômas 2 oder auf die homepage: www.akweb.de/fantomas/index.htm