Von einem Staat zum andern - und raus.
Es gibt verschiedene Gründe, sich mit Staatstheorie zu befassen; der erste liegt immer noch darin, im eigenen Leib und Leben Staat und Staatlichkeit auch dann ausgesetzt zu sein, wenn man darauf gar keine Lust hat. Dringlich wird die Sache, will man sich vom Staat befreien. Noch mal dringlicher, wenn sich der "Staat" genannte Zusammenhang gesellschaftlicher Praxen rasant wandelt, von einem Tag zum andern, sich zugleich aber sowohl die Bewegung als auch die Theorie - selbst wenn sie das wollten - nur in anmaßender Verkennung "revolutionär" nennen könnten. Das ist ganz offensichtlich unsere Situation. In der geht es deshalb um Navigation auf kurze Sicht, um Selbstverständigung auf Probe, zapatistisch gesprochen: um ein fragendes Vorangehen. "Konkrete politische Aufgaben", schrieb Lenin ehedem, "muss man in der konkreten Situation aufstellen. Alles ist relativ, alles fließt, alles ändert sich. (...) Es gibt keine abstrakte Wahrheit. Die Wahrheit ist immer konkret."
I.
Die Demonstrationen des 1. 11. 2003 und des 3. 4. 2004 hierzulande zeigen deutlich, dass die neoliberale Hegemonie brüchig wird und Widerstand sich - um ein seit Jahren selten gehörtes Wort zurückzurufen - "massenhaft" in Bewegung setzt. Sie zeigen aber auch, dass von ideologischer, erst recht von organisatorischer Autonomie solcher Bewegung kaum die Rede sein kann. Zu gering der Abstand von Staat und Ökonomie, zu stark der Wunsch, mit den Mächtigen noch einmal ins Gespräch zu kommen, zu groß die Bereitschaft, Anschluss zu halten an die von oben inszenierte "Reformdebatte". Zu schwach vor allem der Wille, schon in der Form des eigenen Auftritts einen neuen Raum zu eröffnen, ein neues Spiel zu spielen. Beruht die Stärke neoliberaler Herrschaft wesentlich darin, offenbare Unzufriedenheit und Widerspenstigkeit auf "Politikverdrossenheit" zu reduzieren, laufen Proteste, die sich den Spielregeln klassischer Repräsentationspolitik fügen, Gefahr, Teil des Problems zu bleiben. Das gilt, um hier jedes Missverständnis auszuschließen, für den Vorsitzenden Sommer nicht weniger als für das letzte Aufgebot sozialistischer Arbeiterparteien "in Gründung". LetÆs sing another song, folks, this one has grown old and bitter.
II.
Trotzdem markieren die Demonstrationen einen in seinen Möglichkeiten noch gar nicht ausgeloteten Bruch. Denn ohne Zweifel befindet sich der historische Block von sozialdemokratischer Partei, sozialpartnerschaftlicher Einheitsgewerkschaft und nationalem Sozialstaat in fortschreitender Zersetzung. Es war aber gerade dieser Block, der die Linken in Deutschland spätestens seit den 1920er Jahren zu aus eigener Kraft nicht zu sprengender Marginalität verdammte - mit Folgen, die nach Æ68 noch die Neue Linke entweder zur Anpassung oder zur Selbstbeschränkung aufs eigene Milieu zwangen. Das fällt jetzt weg. Zwar ist keine gesellschaftliche Kraft in Sicht, die das Vakuum besetzen will. Das aber ändert an dessen Öffnung nichts. Sozialdemokratische Partei, sozialpartnerschaftliche Einheitsgewerkschaft und nationaler Sozialstaat sind für immer mehr Leute kein Projekt, keine Option mehr. Hier nicht, und anderswo noch weniger.
III.
Die Schwäche der "Bewegung gegen den Sozialkahlschlag" - wie, in anderer Weise, der globalisierungskritischen Bewegung - besteht in ihrem defensiven, sozial- und nationalstaatsnostalgischem Charakter. Das darf Linke nicht dazu führen, den Abwehrkampf und damit die Intervention in diese Bewegung zu verweigern. Im Gegenteil: wer soziale Rechte und materielle Garantien, die in sozialen Kämpfen errungen wurden, verteidigt, räumt sich wenigstens die Möglichkeit ein, mit Standortnationalismus und Konkurrenzindividualismus, der Doppelspitze neoliberaler Hegemonie, zu brechen. Das gilt selbst dann, wenn der nationale Sozialstaat die politische Form war, weitergehende soziale Kämpfe einzuhegen und zu befrieden. Wo beginnen, wenn nicht da.
IV.
Genauso verfehlt wäre es aber, dabei stehen zu bleiben und auf neo-sozialdemokratische "Wahlalternativen" zu hoffen, auf die sich die Linken nach Lage der Dinge übrigens einstellen müssen. Die Zersetzung des national-sozialstaatlichen Blocks wird von "neuen Linksparteien" nicht aufgehalten, doch können sie Räume schließen, die autonom noch gar nicht erprobt wurden. Eine schnelllebige Zeit, wie man so sagt. Wie aber geht "Offensive"? Wie lassen sich Abwehrkämpfe subversiv umkehren, die Linke nicht überspringen können, wollen sie nicht einfach nur recht behalten und unter sich bleiben? Zwei Dinge fallen uns da ein: sich Klarheit verschaffen und sich auf die Kämpfe beziehen, und zwar nicht nur auf die, die man vor der Nase hat.
Ad 1: Der nationale Sozialstaat ist wirklich am Ende. Die von den dominanten kapitalistischen Staaten bewusst betriebene De-Regulierung der Kapital-, Finanz- und Wissensströme und die mit ihr einhergehende, von den Informationstechnologien weiter voran getriebene Internationalisierung der Arbeitsteilung haben die Standortkonkurrenz zwischen diesen Staaten soweit verschärft, dass sie nicht länger Sozialstaaten bleiben konnten, sondern "nationale Wettbewerbsstaaten" (J. Hirsch) werden mussten. Deren Ziel aber ist die Schaffung und Garantie der jeweils bestmöglichen Verwertungsbedingungen für ein transnational freigesetztes Kapital - und sonst erst mal gar nichts. Auf der Basis struktureller Massenerwerbslosigkeit entfällt die strategische Grundlage bisheriger Sozialstaatlichkeit, die ja gerade in der Verallgemeinerung hochentlohnter und hochverrechtlichter Lohnarbeit zur tendenziell weltumspannenden "Vollbeschäftigung" bestand. Die zum System verfestigte Unterbeschäftigung führt im globalen Süden zu gesellschaftlichen Verhältnissen noch unterhalb von Ausbeutungsverhältnissen, drückt aber - wieder in Tendenz - auch im Norden immer mehr prekär Beschäftigte auf den Status von "working poor" herab, deren Erwerbstätigkeit zur Bestreitung des Lebensunterhalts nicht mehr hinreicht. "Staat" wird dabei zu dem Zusammenhang gesellschaftlicher Praxis, der diese Tendenzen nach den gegebenen Kräfteverhältnissen zu regulieren sucht. Ohne vorschnell Alarm schlagen zu wollen, ist im "lang anhaltenden Krieg gegen den Terrorismus" schon jetzt zu erkennen, worauf das im Extrem hinausläuft. Das Angebot zum Mitmachen zielt dabei nicht mehr auf Wohlstand oder erweiterte Rechte, sondern nur noch, aber immerhin auf "Sicherheit".
Von all dem abgesehen aber war der nationale Sozialstaat, wie Toni Negri anmerkt, immer schon "ein Stück Scheiße". Staat der nationalen Lohnarbeit, eingerichtet unter systematischer Voraussetzung der asymmetrischen Herrschafts- und Machtverhältnisse zwischen Nord und Süd und West und Ost. Ein Privileg des Nordens und Westens, nicht nur im Norden und Westen zugleich an die Beschränkung jedenfalls einer großen Zahl von Frauen auf unbezahlte Reproduktionstätigkeiten, an deren Abhängigkeit und die Abhängigkeit der Alten, der Kranken, der Jungen vom männlichen "Ernährer" gebunden. Deshalb ein Staat der weißen Männer, "oben" wie "unten". Der nationale Sozialstaat war damit stets ein autoritärer Staat, auch und gerade in den bürokratischen Formen sozialer Sicherung, die er allein auszubilden in der Lage war. Und er war und ist, last but not least, ökologisch ein Desaster.
Ad 2: Die sozialen Kämpfe im lebensweltlichen Alltag wie im weltgesellschaftlichen Zusammenhang wurden immer auch im, oft sogar für den nationalen Sozialstaat - wurden aber immer auch gegen dieses "Stück Scheiße" geführt. Das aber ist das Wichtigste, wenn es um die Wende aus der Defensive geht. In einer Situation, in der sich Proteste gegen die neoliberale Prekarisierung der Lebens- und Arbeitsbedingungen defensiv an den zurück genommenen sozialstaatlichen Garantien orientieren, gilt es, an die antipatriarchalen, anti-industrialistischen und antirassistischen Revolten wieder anzuknüpfen, die den Sozialstaat und die ihn tragenden und von ihm bestätigten Vergesellschaftungsweisen von links infragestellten.
V.
Auch jenseits des nationalen Sozialstaats - also hier und heute - führt das im ersten Schritt auf soziale Rechte und materielle Garantien zurück. Das hat unüberhörbar mit Staat zu tun und hört doch mit Staat nicht auf. Wer auf seine Rechte pocht oder neue, weiter ausgespannte Rechte erstreiten will, geht, das sagten wir schon, von sich und nicht mehr vom Standort aus, und spricht zugleich nicht nur von und für sich, weil soziale Rechte Rechte für alle oder eben Privilegien weniger sind. In der Drift über die Grenzen des nationalen Sozialstaats, in der wir treiben, heißt das von links her: wirklich für alle überall und sowieso für alle, die hier sind. Und: Rechte hat nicht, wer seine Pflichten erfüllt, schon deshalb nicht, weil immer weniger Leute auch nur die Möglichkeit haben, sich beschissenen Pflichten opfern zu dürfen. Das führt im zweiten Schritt auf die Kämpfe zurück. Welche Kämpfe, wo zu beginnen? Zehrten nicht gerade die Reproduktionsstrategien der Linken vom nationalen Sozialstaat, im strategischen Gebrauch der Zeitressourcen einer verlängerten studentischen Existenz wie im JobberInnentum, im alternativökonomischem Experiment wie in der privilegierten Besetzung "kreativer" oder sozialer Berufe, sogar in der Teilnahme am "Marsch durch die Institutionen" und nicht zuletzt der individuellen Nutzung sozialstaatlicher Garantien? Das alles tendiert heute gegen Null, und öffnet Linken damit einen Ort, der zum Anfang des Kampfes werden kann, jenseits des nationalen Sozialstaats, historisch, weil es um dessen Wiederherstellung nicht gehen kann, territorial, weil dieser Kampf aus seiner eigenen Dynamik "den funktionalen Zusammenhang der Rechtsordnung des Staats, seines Territoriums und der Zugehörigkeit der Staatsbürger zur jeweiligen Nation" aufsprengen muss (Bojad`´z ijev u.a., vgl. hier S. 24ff.).
Wir freuen uns auf Kämpfe um transnationale soziale Rechte, die noch zu beginnen sind. Dazu braucht man nicht nur, aber auch Staatstheorie, nicht um des Staates willen, sondern um Autonomie gewinnen zu können, im und gegen den Staat.
Redaktion Fantômas