Der Reiz des Spektakels
Soziale Bewegungen und religiöse Hegemonie in Brasilien
Von Michael Ramminger
Brasilien erlebte in den letzten Jahren einen Boom evangelikaler Sekten. Besonders die neuen Pfingstkirchen, die so genannten "pentecostalen" Glaubensgemeinschaften haben regen Zulauf. (1) Deren Anhänger sind vor allem in den Großstädten zu finden. In ihren Kulten drückt sich die neoliberale Subjektivität großstädtischer Schichten aus. Und ihre Stärke verweist auf die Schwäche der Linken und damit der Befreiungstheologie.
Als die "Partei der Arbeiter" (PT) in Brasilien zwanzig Jahre nach ihrer Gründung an die Macht kam und der ehemalige Metallarbeiter Lula Präsident wurde, waren die Erwartungen an der Basis riesig. Der Befreiungstheologe Alberto da Silva Moreira sprach sogar davon, dass es im religiösen Unterbewusstsein des Volkes eine nahezu messianische Verschmelzung Lulas mit der sagenumwobenen Figur des portugiesischen König Don Sebastião, dem "Vater der Armen", gab.
Dieser "Sebastianismus", der von Lula klug eingesetzte Populismus und seine persönliche Geschichte als Gewerkschaftsaktivist sind die Substanz, die die in Brasilien häufig anzutreffende personalisierte Auseinandersetzung mit der Regierungspolitik - neben der Frage ob die PT noch links oder schon neoliberal-sozialdemokratisch gewendet sei - erklären helfen: "Rettet Lula", so lautet der Titel eines offenes Briefes des Ökonomen und PT-Mitglieds Marcus Arruda. Solche Auseinandersetzungen sind keine problematische Personalisierung neoliberaler Politik, sondern Ausdruck des Verlustes ideologischer Macht der PT-Regierung insgesamt. Im populistischen Spiel mit der symbolischen Macht dieser religiösen Figur des "Vaters der Armen" bewegen sich Lula und die Regierungs-PT zunehmend auf dünnem Eis, die Verschleißeffekte werden immer offensichtlicher.
Damit sind auch schon zwei Krisenelemente der brasilianischen Linken angesprochen, die alltäglich offensichtlich, aber in der politischen Diskussion über ihre Zukunft so gut wie nicht miteinander vermittelt sind. Die Krise der brasilianischen Linken besteht nicht nur in der umstrittenen Diskussion um ihr "Projekt" im Sinne politischer und ökonomischer Perspektiven (und damit in der Frage nach der Einschätzung der PT und Lulas), sondern auch in ihrer kulturellen Erosion. Bei diesem zweiten Element wiederum spielen Verschiebungen im religiösen Feld und seiner Praktiken, Glaubensinhalte und Autoritäten, die in Brasilien schon immer hoch bedeutsam waren, eine besondere Rolle: Die Gründung der PT 1980 war nicht nur Ergebnis einer politisch-ideologischen Einheit von ehemals illegalen linken Parteien, sozialen Bewegungen und Gewerkschaften. Zu dieser Koalition gehörten auch Teile der katholischen Kirche, ihrer Hierarchie, des Klerus, katholische Intellektuelle und viele Basisgemeinden, später auch protestantische Kirchen. Viele Katholiken arbeiteten in sozialen Bewegungen, vereinzelt auch in Parteien mit und waren und sind damit selbstverständlicher Teil der Linken. Wichtiger noch aber war die Tatsache, dass die "Theologie der Befreiung" bis in die 1980er Jahre innerhalb des opaken Feldes religiöser Identitäten und kollektiver Überzeugungen und Traditionen vor allem bei der ländlichen Bevölkerung eine gewisse Vorherrschaft hatte. Dies gelang ihr, indem sie sozialethische Forderungen und linke Theorie und Praxis mit religiösen Bedürfnissen vermittelte. Sie trug damit nicht unwesentlich zur Stärkung linker Bewegungen in Brasilien bei. Der Theologie der Befreiung ist es aber nicht gelungen, dieses religiöse Feld weiter besetzt zu halten. Stattdessen erleben momentan evangelikale Sekten und vor allem neopentecostale Kirchen einen massenhaften Aufschwung. Insofern sind die Frage der Positionierung der sozialen Linken in Brasilien zu Regierungs- und Parteipolitik, aber auch die Frage nach Einfluss und Bedeutung von Religion grundsätzliche Zukunftsfragen.
MST - Doppelstrategie sozialer Bewegungen
Die Tatsache, dass die stärkste soziale Bewegung, die Landlosenbewegung MST sich mit offener Kritik an der Regierung Lulas eher zurückhält, verweist nicht auf einen Kooperationskurs. Sie ist eher der Ausdruck dafür, dass der MST eine offene Auseinandersetzung mit der Regierungs-PT derzeit für kontraproduktiv hält. Diese würde sich eh nur auf dem Feld ideologisch-abstrakter Auseinandersetzungen bewegen. Der MST sucht deshalb in einer Doppelstrategie einerseits in konkreten Besetzungsaktionen die Landverteilung voranzutreiben und andererseits in einem langfristigen Organisationsprozess ihre Autonomie und ein gesellschaftliches Projekt unabhängig von tagespolitischen Konjunkturen zu stärken. Bereits 1984 entschied der MST, sich als autonome Organisation gegenüber politischen Parteien und der katholischen Kirche zu konstituieren. Diese Entscheidung war von der Erfahrung anderer Bauernbewegungen gespeist, dass die Unterordnung einer Massenbewegung in der Regel zu ihrer Schwächung und Verwicklung in parteipolitische Fraktionskämpfe und Interessen führt. Trotz Unterstützung der PT, Mitarbeit in der Partei und gemeinsamen Kampfes seit den 1980er Jahren blieb diese Linie bis heute maßgeblich. Damit scheint es, als ob die sozialen Bewegungen einer ideologischen Landnahme durch die PT-Regierungspolitik entgehen könnten. Gleichwohl bleibt natürlich das Problem, dass eine Partei, die mit dem Anspruch, die Interessen der armen Bevölkerung zu vertreten, sowohl ideologisch als auch in ihren ökonomischen Strategien zu scheitern droht: Ein Scheitern, dass zwangsläufig auch auf die sozialen Bewegungen zurückfallen wird, insofern sie nicht in der Lage sind, ihre materiellen Forderungen gesellschaftlich durchzusetzen.
Ideologieproduktion: Jeden Tag eine neue Kirche
Die brasilianische Linke befindet sich folglich insgesamt in einer Krise, so der ideologische Kopf des MST, João Stedile. Dafür verantwortlich ist auch eine ideologisch-kulturelle Transformation, deren Ausmaß in der Linken bisher gar nicht wahrgenommen wurde. Denn selbst wenn die klassischen sozialen Bewegungen durch Betonung ihres unabhängigen, autonomen Charakters der Gefahr entgehen, mit der PT-Regierung unterzugehen, ist ihre Zukunft bei weitem nicht gesichert. Die meisten der oben erwähnten Bewegungen gewannen und gewinnen ihre ideologische und politische Legitimität auseiner Mixtur von Gerechtigkeits- und Solidaritätsvorstellungen, die sich aus traditionellen marxistischen und/oder christlichen Analysen und Wertvorstellungen ableiten und ihre kulturelle Verwurzelung im ländlichen Raum haben. In den letztendreißig Jahren hat Brasilien aber eine rapide und unkontrollierbare Verstädterung erlebt: Etwa zwei Drittel aller BrasilianerInnen leben heute in Städten, die ihre spezifischen Probleme wie den extremen Zusammenhang zwischen Armut und Gewalt, Drogenhandel, einen extensiven informellen Sektor haben, die aber auch ihre eigene Kultur, Sozialität, Kommunikationsformen und auch Religion entwickeln, die von hier aus mit einer enormen Dynamik in das Land zurückwirken.
Für diese Problematiken haben bisher weder die soziale noch die politische Linke Kategorien entwickelt. Die geradezu explosionsartige Ausbreitung von Religion vor allem in Form von neopentecostalen Kirchen z.B. bleibt fast völlig unthematisiert. So entstanden allein in Rio de Janeiro zwischen 1990 und 1992 pro Woche fünf neue Kirchen, so dass man durchaus sagen kann, dass sie zu den wichtigsten Ideologieproduzenten in der brasilianischen Gesellschaft (vor allem bei den städtischen Armen) gehören. Zu ihnen gehören die Assembléia de Deus mit ca. 30.000 Kirchen und die bereits 1977 gegründete Igreja Universal do Reino de Deus. Da diese über keine formellen Mitgliederstrukturen verfügt, schwanken die Schätzungen über die Zahl ihrer Anhänger heute zwischen drei und fünfzehn Millionen mit jährlichen Zuwachsraten von bis zu 20%. Sie ist zentralistisch organisiert, verfügt über ca. ein Dutzend Radiosender und einen eigenen Fernsehkanal, TV-Rekord. Ihre massenmediale Präsenz trägt der zunehmenden Bedeutung von religiösen Sendeanteilen in den brasilianischen Medien Rechnung: Wurden 1975 gerade einmal 70 Minuten Kirchenprogramm pro Woche übertragen, waren es Anfang der 1990er Jahre schon 35 Stunden oder fünf Stunden pro Tag, von denen der größte Anteil auf die Igreja Universal entfällt.
"Hör auf zu leiden - es gibt eine Lösung"
Ihre Botschaft ist denkbar simpel: "Höre auf zu leiden - es gibt eine Lösung - Was ist dein Problem?" Ihre Theologie basiert auf der Figur des gefallenen Lucifers und seiner Engel, die sich in Dämonen verwandeln und die Welt der Menschen vergiften. Die Therapie gegen diese Dämonen sind die Verkündigung des "Wort Gottes" und vor allem Exorzismen. Natürlich knüpft die Igreja Universal hier an Spiritismus und Fetischglauben afro-amerikanischer Religionen an (gegen die ansonsten ein "heiliger Krieg" geführt wird), die immer schon einen Teil der Volksreligiosität Brasiliens ausmachten. Denn dass Brasilien ein katholisches Land ist, ist ein Mythos; hinter der formalen Konfessionszugehörigkeit wurden immer schon indigene und afro-amerikanische Traditionen mit katholischen Riten und Überzeugungen gemischt oder unter deren Deckmantel praktiziert.
Wesentliches Therapiemoment sind die mehrfach in der Woche stattfindenden Kulte, thematisch oder nach Zielgruppen unterschieden. Die Gotteshäuser oder Tempel sind in der Regel ehemalige Kinos oder Märkte, die verkehrsgünstig und an zentralen Orten eingerichtet und manchmal für mehrere tausend TeilnehmerInnen ausgelegt sind. Bequeme Sessel und helle Farben bestimmen das Interieur, das eher einem Theater als einer Kirche ähnelt. Auf der Bühne inszeniert der Pastor oder Bischof eine perfekte Show zwischen Beteiligung und Selbstilluminierung, Stille und Gesang, zwischen kollektiver Emotionalität und individueller Versenkung. Die Höhepunkte, die Exorzismen werden von vielen Helfern begleitet, die Hilfestellung geben oder gegebenenfalls Kontrollfunktionen ausüben. Exorziert werden Drogenabhängigkeit, Depressionen, Beziehungsunfähigkeiten, Krebserkrankungen usw. Die Botschaft lautet: Hier gibt es spirituellen Frieden, physische Gesundheit und finanziellen Erfolg. "Höre auf zu leiden" und "Geld ist keine Sünde, sondern Beleg für Gottesfürchtigkeit" sind die Grundideologeme. Der Neopentecostalismus hat seine Wurzeln auch im "positive Thinking".
Der klassische Pentecostalismus dagegen, der Anfang des letzten Jahrhunderts nach Brasilien kam, wanderte über die kleinen Städte und das Land ein. Die Mischung aus protestantischer Ethik, einer gewissen Emotionalität, starker Gemeinschaftlichkeit und Askese machte ihn so erfolgreich: Durch seinen Kampf gegen Alkoholismus, Rauchen oder Ehebruch, seine Arbeitsmoral und die fest formierten Gemeinschaften wirkte er sozial stabilisierend. Auch die katholische Kirche ist eine stark ländlich verankerte Religion gewesen, die gerade in den 1970er und 1980er Jahren mit der Theologie der Befreiung eine ebenfalls auf starke Kollektivität (Basisgemeinden) aufbauende Identität, aber zudem auf eine Vermittlung von traditionaler Religion und moderner, selbstreflexiver Sozialkritik setzte.
Der Neopentecostalismus aber ist eine offenkundig typisch städtische Religion, und dies nicht nur, weil er 1977 in Rio de Janeiro entstanden ist. Denn sein Synkretismus (2) nimmt sowohl Elemente verschiedener traditionaler Religionen, als auch Strukturen und Techniken moderner massenmedialer Kommunikation, marktvermittelte Weltbilder, Embleme und Logos in sich auf. Die Theologie der Prosperität (finanzieller Erfolg als Beweis für Gottesfürchtigkeit), die Verwerfung jeder Leidensmystik und sein Rekurs auf Individualität und Selbstverantwortung spiegeln Elemente neoliberaler Subjektivität. Für die Igreja Universal do Reino de Deus definiert sich Religion nicht mehr zwangsläufig durch kollektiv und traditionell vermittelte Identitäten. Der Gemeinschaftsaspekt ist vielmehr jeglicher, vor allem auch sozialethischer Verpflichtung enthoben, und verkommt zur Eventproduktion in den Kulten und deren Höhepunkten, den Exorzismen. Die hohe Mobilität religiöser und konfessioneller Bindungen, ein für Brasilien immer schon typisches Phänomen, ist den Neopentecostalen kein Hindernis, sondern wird in der Instrumentalisierung verschiedenster religiöser Werkzeuge und ihrer Inszenierung eingefangen. Ihre Kulte haben deshalb auch einen nicht zu unterschätzenden Freizeitwert, der in der Vielzahl seiner marketingstrategisch klug positionierten und differenzierten Angebote im Markt der Möglichkeiten umstandslos mithalten kann.
Die Schwäche der Befreiungstheologie
Insofern ist die Igreja Universal do Reino de Deus im Moment eine der brasilianischen gesellschaftlichen Institutionen, die auf die unterschiedlichsten religiösen, sozialen und kulturellen Bedürfnisse am erfolgreichsten reagiert und sie durch eine Adaption moderner administrativer Strukturen, Indienstnahme von Massenmedien und kultureller und religiöser Bedürfnisse und Identitäten strukturiert. Sie stellt damit einen erheblichen ideologischen Counterpart und eine Herausforderung für die Mobilisierungs- und Bindungsfähigkeit von sozialen Bewegungen dar. Dazu kommt noch, dass sie nach einer ersten Phase der politischen Abstinenz inzwischen auch parlamentarisches und parteipolitisches Engagement zeigt: Sie ist engstens - auch finanziell - mit einer Koalitionspartei der PT, der Liberalen Partei PL, verbunden, die den höchsten Anteil von Pastoren als Abgeordnete hat.
Die Befreiungstheologie dagegen war nach ihrer ersten äußerst erfolgreichen Artikulationsphase ab Mitte der 1980er Jahre in eine Auseinandersetzung mit den neokonservativen Kräften innerhalb der römisch-katholischen Kirche verstrickt. Hierbei spielten die Glaubenskongregation unter dem deutschen Kardinal Ratzinger, die päpstliche Kommission für Lateinamerika und das vom strikt antikommunistischen Papst unterstützte Opus Dei eine erhebliche Rolle. Sie setzten Befreiungstheologen unter Druck und diffamierten die Theologie der Befreiung als "marxistisch-atheistische Ideologie". Damit wurde diese nicht nur innerinstitutionell geschwächt und delegitimiert, sondern strategisch klug in internen Auseinandersetzungen gebunden und ihre intellektuelle Führung in der Kirche und an Universitäten dezimiert. Dies - und die Tatsache, dass sich viele ChristInnen in dieser Situation dazu entschieden, ihr Engagement auf die Mitarbeit in sozialen Bewegungen zu konzentrieren -, führte dazu, dass eine Auseinandersetzung mit den Phänomenen neuer Religiosität und den neopentecostalen Kirchen bisher auch hier ausgeblieben ist.
Das Problem der Linken in Brasilien ist also nicht einfach nur die PT und ihre Sozialdemokratisierung, auch nicht alleine IWF, Weltbank und nordamerikanischer Imperialismus. Das Problem der brasilianischen Linken und linker ChristInnen besteht darin, dass sie von Traditionen zehren, deren Reproduktion sie derzeit nicht oder nur mühsam sichern können. Im Frühjahr dieses Jahres stellte der MST eine erste eigene Universität in der Nähe von São Paulo fertig. Hier sollen denjenigen, die zurück auf das Land gehen, landwirtschaftliche und organisatorische Kompetenzen vermittelt werden, aber im Blick auf das politische "nationale" (sprich sozialistische) Projekt geht es auch um die Ausbildung von Kadern, "die neue Modelle von Solidarität, Ethik, des Respekts, der Geschlechterverhältnisse und der Beziehungen zwischen den Ethnien vorantreiben". Diese neuen Modelle werden auch auf die Besetzung des kulturell-religiösen Feldes durch die neopentecostalen Kirchen-Unternehmen reagieren müssen. Anders als bei der Auseinandersetzung mit Regierungspolitik und Parteilogik fehlen dafür aber bisher Analysen und strategische Konzepte.
Michael Ramminger, katholischer Theologe, arbeitet im Institut für Theologie und Politik in Münster in der Tradition der lateinamerikanischen Befreiungstheologie. Er ist wie alle, die in dieser von Kirche und Staat unabhängigen Bewegungsorganisation arbeiten, mit Max Horkheimer der Meinung, dass das, "was unter den Herrschenden gedeihen will, Herrschaft reproduziert."
Anmerkungen:
1) Neopentecostale ("Neu-Pfingstlerische")
Kirchen gibt es in Brasilien seit ca. 30 Jahren. Es sind eigenständige, von den großen Konfessionen unabhängige Gründungen, die sich durch Exorzismen und Geistheilungen, ihre hierarchische Strukturen und die Einbeziehung moderner Kommunikationsmittel in ihre "Verkündigung" auszeichnen. Der Gründer der Igreja Universal do Reino de Deus (Universale Kirche des Reich Gottes), der selbsternannte Bischof Edir Macedo, war vorher einfacher Angestellter eines brasilianischen Lotterieunternehmens. 2) Synkretismus nennt man die unmethodische Vermischung verschiedener philosophischer oder religiöser Systeme ohne Ausgleichung ihrer Prinzipien.