Fantômas 9 - Checkpoint High Security Zone
Es sollte diesmal anders werden, das Editorial. Statt einer "Erklärung" eine Debatte. Unter uns. Und das nicht ohne Grund: Es schien uns schwierig, strategische Aussagen in Sachen "Sicherheitsdispositiv" zu treffen. Schwieriger als sonst. Jedenfalls an dem Punkt, wo es darum geht, radikale Alternativen zu denken, soziale Kämpfe aufzuspüren, die sich diesem Dispositiv entziehen, vielleicht sogar seine Überwindung in Aussicht stellen. "Wo bleibt das Positive?" lautete deshalb die provisorische Überschrift unserer Debatte.
iUm es gleich vorweg zu nehmen: Es ist nicht so einfach mit dem Positiven. Was nicht heißt, dass es nicht existiert. Anders jedoch als zum Beispiel im Falle der Anerkennungs-, Verteilungs- und Aneignungskämpfe, denen wir im letzten Heft nachgegangen sind, haben Kämpfe um und gegen das Sicherheitsdispositiv eine Geschichte, die erst noch zu schreiben ist, die noch nicht hinter, sondern eben erst vor uns liegt. Natürlich wurde auch früher schon "Sicherheit" zum Thema sozialer Auseinandersetzungen und linker Kritik, denken wir nur an die späten 1970er Jahre, als der damalige Chef des Bundeskriminalamts, Horst Herold, die Rote Armee Fraktion und ihre "SymphatisantInnen" mit einem Rasterfahndungssystem jagen wollte, dem er den Namen "Sonnenstaat" gab. Oder denken wir an die Mobilisierung für den Boykott der Volkszählung in den 1980er Jahren, zu dem sich damals ein breites Bündnis zusammenfand, das von der radikalen Linken über die erstmals im Bundestag vertretenen Grünen bis ins liberale Bürgertum reichte. Und doch: Wenn wir das Sicherheitsdispositiv zum Thema machen, dann deshalb, weil sich zwischenzeitlich Verschiebungen ereignet haben, die es - ein Beispiel nur - nicht mehr erlauben, die Regime der Sicherheit nur vom Problem der Repression her aufzurollen. Auf diese Verschiebungen geben wir mit dieser Nummer von Fantômas immerhin einen Ausblick, als erste Annäherung an das merkwürdige Objekt "Sicherheit".
iiDen Anfang machen Kaschinski/Spehr mit ihrer Durchsicht aktueller "Politiken der Katastrophe". Ihnen folgen vier Beiträge, die spezifischen Verdichtungen des Sicherheitsdispositivs nachgehen (Feyerabend, Lindner, Hermann, Belina, Unión de Vecinos) und dabei auch von denen sprechen, die sich ihm zu entziehen suchen. Größeren Raum nehmen Fluchten und Widerstände in den vier Beiträgen ein, die sich dem "Sicherheitsrisiko" widmen, zu dem im Kalkül imperialer Weltordnung der Globale Süden und die globale Unterklasse der "Überflüssigen" geworden sind (Reese, Alnasseri, Redaktion Autonomie NF, Banse/Seibert). Im letzten Teil des Hefts öffnen drei Beiträge den Horizont einer ausdrücklich theoretischen Kritik des Sicherheitsdispositiv. Hier dienen einerseits die Philosophie Foucaults und Agambens, andererseits die Begriffe "Freiheit" und "Gerechtigkeit" als Referenz (Opitz, Diefenbach, Dieckmann). Los geht's, Checkpoint High Security Zone ...
iiiSicher ist in Sachen Sicherheit nur wirklich dies: Es gibt im gegenwärtigen Ganzen der sozialen Erfahrung mittlerweile nicht mehr viel, was nichts mit Sicherheit zu tun hätte. Das ist, jedenfalls wenn man Foucault glaubt, kein Zufall. Im Liberalismus, dem hegemonialen Regime von "Regierung" im kapitalistischen globalen Norden, funktioniert Sicherheit als interner Vektor, der die "freiheitlichen" Prinzipien des Liberalismus immer schon in Richtung Illiberalismus (Kontrolle, Überwachung, Repression) überschreitet (Opitz). Dies gilt besonders für neoliberale Machtregime, die sich als einzig adäquate Lösung für das schier uferlose Problem der allgegenwärtigen Bedrohung der kollektiven und individuellen Sicherheit präsentieren. Dabei unterhält gerade der Neoliberalismus eine besonders enge Bindung zu Gefahren und Risiken: Während Risiken zur konstitutiven Bedingung für "individuelle Entfaltung" und gesellschaftlichen Fortschritt mutieren, erleben die meisten das neoliberale Angebot als reale Gefährdung des eigenen Überlebens. Neoliberale Gesellschaften sind demnach "Risikogesellschaften", in denen Risiken gezielt produziert und verwaltet werden. Die Tendenz zur Prekarisierung praktisch aller Lebensverhältnisse ist deshalb kein Zufall, sondern Strukturmerkmal der "Freiheit", um die es der repressiven Kontrollgesellschaft geht, die ja inzwischen weltweit installiert ist und deren Logik sich ganz besonders in den Ländern des globalen Südens zu erkennen gibt.
ivMit den Risiken vervielfältigen sich auch die Riskanten, die deshalb auf Gebiete außerhalb der rechtsstaatlichen Normalität verschoben werden. Eine flexible Suspendierung von sozialen und politischen Rechten produziert ein niederschwelliges System des "Ausnahmezustandes", das insbesondere dort greift, wo Prekarisierung und Migration, Politiken der Verunsicherung und Rassismus ineinander greifen (Diefenbach): Die "Rütli-Schüler" personifizieren stellvertretend die Sorte von Risiko, die per Ausweisung und/oder Verengung des Zugangs zur eh schon demontierten Sozialversorgung entschärft werden soll. Das Recht, Rechte zu haben, hat in dieser Logik nur, wer innerhalb der hegemonialen Kontrollräume, der lokalen, regionalen und (inter-)nationalen gated communities lebt - und dortselbst nicht übermäßig gefährlich wird.
vDer auf Dauer gestellte globale Sicherheitsnotstand stellt auch den Krieg auf Dauer - als Polizeioperation. Der "Krieg gegen den Terror" soll die Weltverhältnisse nach dem bipolaren Modell vom "Kampf der Kulturen" umstrukturieren und imperial beherrschbar werden lassen (Alnasseri), "humanitäre Interventionen" und "liberale Protektorate" versprechen, die extreme Gewalt einzuhegen, die die wachsenden Zonen absoluter Verelendung zu verwüsten droht (Banse/Seibert). So werden die überflüssig Gemachten "poliziert", so werden aus sozialen Phänomenen räumliche gemacht, bis nur noch interessiert, wo jemand obdachlos, nicht einverstanden mit der herrschenden Politik oder aus anderen Gründen "gefährlich" wird, bis "Integration" als gesellschaftliches Ideal nurmehr antiquiert scheint (Belina). So wird aus Entwicklungspolitik immer mehr Sicherheitspolitik, der es vor allem um die Abwehr von "Risiken" wie Menschenfluten und Armutsterrorismus geht (Reese). Die neokoloniale und imperia(listisch)e Aufteilung der Welt im Zeichen der globalen Verunsicherung wird besonders dort sichtbar, wo vermeintliche Naturkatastrophen wie Seuchen oder Flutwellen zu einem Instrument der imperialen Aneignung neuer Machtbereiche werden (Spehr/Kaschinski). Vermeintliche Naturkatastrophen deshalb, weil jede Katastrophe in ihren Konsequenzen die soziale Struktur von Gesellschaften offen legt: Es sind vor allem die Ausgegrenzten, die "Entbehrlichen", die immer schon Beherrschten, die den größten Teil der Last der Katastrophe zu tragen haben. Die Naturkatastrophe ist damit in ihren Konsequenzen so wenig "natürlich" wie die ökologische Katastrophe in ihren Ursachen.
viAls weltgesellschaftliche Verhältnisse, die sich krisenhaft reproduzieren und dabei immer neue Formen von Herrschaft und Führung ausbilden, bezeichnen Empire und Imperialismus stets auch Frontlinien eines Widerstands, an denen die "Machtfrage" auch umgekehrt, zur Frage wenigstens einer nachhaltigen Schwächung des globalen Sicherheitsdispositivs werden kann. Was hypothetisch in den diffusen Übergängen zwischen imperialer Plebs und anti-imperialer Multitude gesucht werden kann (Banse/Seibert), stellt sich - im Szenario des "Kampfs der Kulturen" kaum zufällig - im arabischen Raum als konkrete Option eines grenzüberschreitenden alternativen "Blocks", der zwischen US-Besatzung und islamitischer Reaktion seinen eigenen Weg, den Weg nach draußen sucht (Alnasseri). Doch kann es nicht schaden, sich gerade im Übergang von der analytischen zur strategischen Überlegung, dort also, wo sich die von links her wichtigste Frage stellt - "Was tun?" - ausdrücklich zu erinnern: an zurückliegende Augenblicke, in denen sich zu klären schien, was damals zu tun möglich und dringlich war (Redaktion Autonomie). Dabei kann es nicht darum gehen, sich über Fehler zu erheben, die "vor uns" gemacht worden sind, im Gegenteil: Zu lernen bleibt, dass die Frage "Was tun?" nur von denen beantwortet werden kann, die den Mut zum Irrtum auf sich nehmen.
viiSicherheitspolitik nährt sich nicht zufällig aus einer "Ökologie der Angst" (Opitz), und die wiederum führt immer auch auf Metaphern, wissenschaftliche Imaginationen und Kollektivsymbole zurück und hält diese weiter im Umlauf. "Immunsysteme", "Viren" und "Infektionen" fungieren in der metaphorischen Reproduktion von Sicherheitsrisiken und Sicherheitspolitiken als Leitmotiv, das die Abwehr des "Nicht-Selbst", die Ausgrenzung des Anderen und die permanente (Selbst-)Kontrolle zu einer biologischen Notwendigkeit erklärt (Feyerabend). Vor dem Hintergrund überall lauernder biologischer und sozialer Risiken lässt sich - zusammen mit dem quasi als Naturgesetz angerufenen Zwang zur Kosteneinsparung - auch die Notwendigkeit einer zentralen Erfassung z.B. von "Gesundheitsdaten" rechtfertigen: Wer bei Krankheit oder Unfall behandelt werden möchte, muss sich schon mal die Überprüfung und zentrale Erfassung seines Lebensstils und die ebenso moralische wie ökonomische Sanktionierung "ungesunder" Verhaltensweisen gefallen lassen (Linder).
viiiPrädestiniert für die Befolgung der Sicherheitsregeln, für die Bändigung des stets möglichen Ausnahmezustands auch im eigenen Leben ist der/die "SelbstunternehmerIn", die proaktiv, selbstreguliert und marktgerecht inzwischen auch in dem Feld Persönlichkeitsmodell geworden ist, aus dem einstmals alles Unternehmerische per definitionem verbannt war: dem Feld der sozialen Arbeit. Aus sozialen Einrichtungen werden Dienstleistungsunternehmen und aus den früheren "KlientInnen" autonome MarktteilnehmerInnen, die allerdings, wenn sie - als delinquente Jugendliche beispielsweise - zu einem Sicherheitsrisiko werden, weggeschlossen und "verwahrt" werden müssen (Herrmann).
ixAll dies ändert jedoch nichts daran: Sicherheit ist nicht nur ein Vektor im Innern (neo-)liberaler Macht, ist nicht nur eine Herrschaftsmaschine im Dienst der neokolonialen Aufteilung der Welt, ist nicht nur ein äußerst wirksamer (Selbst-)Kontrollapparat. Sicherheit ist und war immer auch ein Wunsch, eine Sehnsucht und ein Grundbedürfnis von Menschen: Sicherheit im Sinne des Schutzes vor äußerer Bedrohung ist elementar für jede Vorstellung gesellschaftlichen Lebens. Gerade die Verbindung aus Sicherheit und Freiheit, die uns im schlechtesten Sinn der Neoliberalismus anträgt, birgt im positivsten Sinn das, was zu wünschen und zu erkämpfen bleibt, ist - um die oben zitierte Frage aufzugreifen - "das Positive". Um den Zerfall der imperialen Ordnung in eine mörderische Weltunordnung zu stoppen, müssen globale Mehrheiten für materielle Freiheitssehnsüchte mobilisiert werden (Alnasseri), muss nach wie vor für gleiche Lebenschancen weltweit gekämpft werden, gegen die Aufteilung der Welt in Zonen unterschiedlicher "Katastrophensicherheit" (Kaschinski/Spehr), gegen die Abschottung der temporär sicheren Festungen von ihrem verwilderten Außen und für gesellschaftliche Solidarbeziehungen, die über die Logik des autonomen Marktindividuums hinausweisen.
Den Bildteil dieses Heftes hat die Münchner Künstlerin Kirsten Kleie gestaltet. Er besteht aus den konzeptuellen Fotoserien "dummy", "privat", "Heile Welt" und "Verletzter Körperraum". Über die künstlerische Arbeit von Kirsten Kleie schreiben Petra Gerschner und Michael Backmund auf Seite 63.
Redaktion Fantômas
P.S.: Auf S. 62 findet ihr ein Glossar, das die eine oder andere begriffliche Hürde erleichtern soll.