Emanzipation lebt nicht vom Recht allein
Von Iris Nowak
Eine tatsächliche Durchsetzung akzeptabler sozialer Standards auf Weltniveau liegt derzeit in weiter Ferne. Weder haben soziale Bewegungen die Stärke, diese durchzusetzen, noch wüssten wir annähernd, wie die Instanz aussähe, die solche Rechte global garantieren könnte. In diesem Sinne enthält die Forderung nach Globalen Sozialen Rechten (GSR) ein utopisches Moment, weil sie von der Gleichheit aller Menschen auf Erden spricht, diese für denkbar hält und einfordert. Gleichzeitig liegt der Reiz der GSR-Forderung darin, dass diese utopische Vorstellung, dieses Denken einer anderen Welt in Begriffen formuliert wird, die keineswegs einer anderen fernen Welt entstammen. Was es bedeutet, ein Recht zu haben oder es nicht zu haben, lässt sich an vielen Beispielen leicht nachvollziehbar verdeutlichen.
GSR zwischen Utopie und Realpolitik
Die Forderung nach Globalen sozialen Rechten bezieht ihre Energie gerade aus diesem Doppelcharakter; daraus, dass sie sich der Eindeutigkeit entzieht (ist sie utopisch oder realpolitisch gemeint?). Vermittelt werden die utopische Ebene und die Ebene real erfahrbarer Rechte in der GSR-Diskussion durch den Hinweis darauf, dass GSR nicht einfach von einer staatlichen Instanz gegeben, sondern im Zuge von Aneignungspraxen sozialer Bewegungen verwirklicht werden.
In meinem Artikel, auf den der vorstehende Text von Stefanie Graefe sich bezieht, diskutierte ich wichtige Leerstellen der Diskussion über GSR. Fragt man nach dem Zusammenhang von GSR und alternativen Lebensformen, fällt zunächst einmal auf, dass es in GSR-Diskussionen selten um den Bereich des Lebens geht, der gemeinhin mit "Lebensform" überschrieben wird. Wer wie mit wem lebt, wer darin Verantwortung für die Sorge um jene übernimmt, die zu diesem Zusammenleben nicht in gleichen Maße wie andere beitragen können, gleichermaßen aber von ihm abhängig sind, ist darin selten Thema. Die Organisation der menschlichen Reproduktion müsste, so meine These, ein Ausgangspunkt der GSR-Diskussion sein; die laufende GSR-Diskussion neigt jedoch dazu (obwohl sie in vielerlei Hinsicht aus den neuen Verhältnissen und neuen Politikformen, in denen wir leben und handeln, hervorgeht), sich auf den klassischen Begriff von Arbeit (= Lohnarbeit) und damit auf einen eingeschränkten Politikbegriff zu beziehen.
Die genannte Kritik lässt sich beispielhaft an den Diskussionen der Frankfurter Initiative zu Globalen sozialen Rechten nachvollziehen. (1) Das Sympathische und Weiterführende an den Veröffentlichungen dieser Initiative ist, dass sie Widersprüche linker bzw. emanzipatorischer Politik benennen, ohne hierfür zugleich fertige Handlungskonzepte zu präsentieren. So beschreiben sie beispielsweise den nicht ohne weiteres auflösbaren Konflikt zwischen der Forderung von MigrantInnen nach Recht auf Bewegungsfreiheit und den Sorgen von einheimischen Arbeitenden und Gewerkschaften, dass dadurch die hiesigen Sozialstandards immer weiter nach unten schrauben würden.
Leerstellen: Sorgearbeit und Geschlechterverhältnisse
Auf dieselbe Weise aber hätte in den Frankfurter Texten der Konflikt um un- und unterbezahlte Sorgearbeit, um die Abwertung von lebenserhaltenden und -entwickelnden Tätigkeiten gegenüber solchen, die hochprofitabel Lebensmittel und -bedingungen produzieren und deren Verwobenheit mit Geschlechterverhältnissen benannt werden können. Es hätte der Widerspruch beschrieben werden können, dass in der Verteilung dieser Tätigkeiten ein wesentliches Gerechtigkeitsproblem für die zukünftige Gestaltung von Gesellschaft liegt. Diese Umverteilung ist eine Voraussetzung für eine "bedingungslose Existenzsicherung aller Menschen in allen Lebensphasen" (was auch Stefanie als basic der GSR benennt), doch will und kann man mit Globalen Sozialen Rechten zugleich nicht vorschreiben, wie diese Verteilung auszusehen hat, weil man dies für einen zu großen Eingriff in die individuelle Lebensgestaltung hält. Man hätte auch benennen können, dass eine Umverteilung dieser Tätigkeiten (und damit auch aller übrigen) eine Auseinandersetzungen mit (eigenen und gesellschaftlichen) Vorstellungen von Mann- und Frausein, von Liebe, Familie und emotionaler Nähe erfordert, dass diese Auseinandersetzung aber nicht oder nur teilweise in der Form von Rechten ausgetragen werden kann. Dies hätte verdeutlicht, dass Rechte nur ein Teil der emanzipatorischen Antwort sind, die wir auf soziale Konflikte finden müssen. Gerade wenn man GSR als umfassende Forderung nach einer allgemeinen Existenzsicherung ernst nimmt, braucht dies eine selbsttätige Reflexion der Grenzen einer Politik der Rechte.
Dass die konkrete Arbeit an der Befriedigung menschlicher Bedürfnisse eine Leerstelle ist, bedeutet nicht nur, dass hegemoniale Geschlechterverhältnisse aus dem Blick geraten (was an sich schon in Anbetracht umfangreicher feministischer Literatur zum Thema schwer erklärbar ist). Dass die Lebensweise und die konkreten Formen, in denen Bedürfnisbefriedigung organisiert sind, in der Debatte um GSR kaum vorkommen, bedeutet auch, dass die Vermittlung zwischen der (ja zweifellos etwas abstrakten) Forderung nach Rechten und dem Alltagsleben unberücksichtigt bleibt. Die Formulierung, dass es mit Globalen Sozialen Rechten um eine grundlegende Bedürfnisbefriedigung für alle geht, ist übrigens nicht von mir. Vielmehr habe ich diese in zahlreichen Veröffentlichungen zum Thema als kurze griffige Erklärung gefunden. Deinen Hinweis, Stefanie, auf die Differenz zwischen "Rechten" und "Bedürfnissen" würde ich sehr unterstützen, ich würde dies allerdings auf die Differenz zwischen "Rechten" und "(allgemeiner) Existenzsicherung" erweitern. Aus dieser Differenz ziehe ich in der Folge eine andere Konsequenz als du, was die Diskussion über GSR betrifft: Ich denke, wir brauche neben einer Politik der Rechte auch eine aktive "Politik der Bedürfnisinterpretation" (Nancy Fraser), und den Zusammenhang zwischen beiden sollten wir bewusst gestalten.
Ich wollte mit meinem Artikel keineswegs vorschlagen, dass mit der Politik um GSR eine normative Setzung verbunden sein soll, welche Lebensformen erstrebenswert sein sollen. Da er offenbar aber so verstanden werden konnte, erläutere ich hier, was ich mit der Verknüpfung von GSR und einer Politik der Lebensformen meine. Mir geht es nicht um eine "soziale Instanz", der gegenüber wir "begründungspflichtig" sind. Worum es mir geht, sind kollektive Formen, in denen wir reflektieren, wie wir uns heute mit unserer gesamten Existenz in die gegenwärtigen Verhältnisse einlassen - mitsamt unseren Bedürfnissen, Interessen und Vorlieben. Ich gehe dabei davon aus, dass unsere eigene Lebensweise und unsere Bedürfnisse und Vorlieben von Widersprüchen durchzogen sind, und dass wir an einigen Stellen um die Erweiterung unserer Handlungsfähigkeit kämpfen und uns an anderen - aktiv oder passiv - an die Normen und sozialen Gegebenheiten klaglos einpassen. Daher braucht es Räume, in denen wir uns hierüber auseinandersetzen, um auf diese Weise zu verstehen, wo unsere Lebensweisen, Selbst- und Weltbilder eigentlich zu den Vorstellungen von einer anderen Welt passen und wo sie dazu im Widerspruch stehen. Offenbar fallen uns heute kaum funktionierende, solidarische oder gar lustvolle Formen ein, in denen eine solche kollektive Auseinandersetzung stattfinden könnte, diese mit politischen Diskussionen verbunden werden könnte und in denen wir ohne normative Setzungen auskommen. Nichtsdestotrotz sollten wir weiterhin danach suchen, denn wir haben nicht die Wahl, ob wir uns in die Politik der Bedürfnisinterpretation einmischen oder nicht. Wir leben in ihr, sie findet täglich in unserem Leben statt und erhält Stoff z.B. durch Fernsehreihen, die einfühlsam den emotionalen Konflikt erwachsener Kinder schildern, die sich ihren pflegebedürftigen Eltern zuwenden, aber auch durch Kämpfe ums gesellschaftliche Lohnniveau oder durch die Regelung von Arbeitslosen- und Elterngeld. Nun bestreitet sicher auch Stefanie nicht, dass z.B. die Frage, wie ich Liebe erfahre und ob das eine glücklich machende Angelegenheit ist, auch durch gesellschaftliche Formen der Bedürfnisinterpretationen vermittelt ist, die in meinem Denken und Fühlen und ebenso wie indem der Menschen meiner Umgebung eine Rolle spielen. Bleibt also die Frage, warum ich die Menschen, die gegenwärtig die GSR-Diskussion vorantreiben, nicht aus der Pflicht lassen will, dieseDimension politischer Auseinandersetzungen aufzugreifen.
Rechte als Ergebnisse sozialer Kämpfe
Letztlich schließt mein Vorschlag an die in Stefanies Beitrag skizzierte Perspektive an und er unterscheidet sich zugleich von ihr. Auch ich gehe davon aus, dass linke Politik Räume bzw. einen "gesellschaftlichen Bewusstseinsraum" schaffen muss, in denen alle "möglichen politischen Auseinandersetzungen unter Beteiligung möglichst Vieler" geführt werden. Jedoch erscheinen in diesem Beitrag Globale Soziale Rechte als "Voraussetzung" für solche Räume; der Kampf um sie sei ein Kampf um die Bedingungen, unter denen solche Räume entstehen können und Menschen selbstbestimmt ihr Leben gestalten. Ich lese dies zum einen als ein Vorher-Nachher - im Sinne von: Wir führen erst einmal GSR ein, und daran anschließend diskutieren wir über unsere Vorstellungen und Praxen, in denen es um ein gutes Leben geht. Zum anderen wird hier eine Grenzziehung zwischen gesellschaftlich und individuell vorgenommen: Gesellschaftlich stellen wir Bedingungen her, in denen der/die Einzelne das Leben individuell gestaltet.
Mir reicht die Vorstellung von Recht als Instanz, die Bedingungen schafft nicht aus, um die Bedeutung von Recht für emanzipatorische Politik zu erfassen. Schließlich gilt ja auch andersherum: Welches Recht existieren wird und welche gesellschaftlichen Bedingungen es produzieren wird, hängt davon ab, welche Bewegungen dieses Recht durchsetzen. Wer fähig ist, die eigenen Interessen in kraftvollen sozialen Bewegungen zu organisieren, welche Themen darin als zentrale gesetzt werden (und welche nicht auftauchen), wer in diesen Bewegungen welche Aufgaben übernimmt, all dies wird die zukünftige Ausgestaltung von Recht und seine Wirkungsweise erheblich mit beeinflussen. Bestimmte soziale Fortschritte und Räume in der Form des Rechts festzuschreiben, wird immer nur eine Ebene der Auseinandersetzung sein. Daneben wird es um spontane Aktionen, um lokal und nur für bestimmte Gruppen ausgehandelte Ergebnisse gehen. Ebenso wird es darum gehen, dass wir immer weiter an unserer eigenen Fähigkeit arbeiten, uns in gesellschaftliche Auseinandersetzungen einzubringen. Ob es den Bereich des Unverfügbaren, auf den Stefanie besteht, für jede Person gibt oder geben wird, welche Umrisse er haben wird und ob diese Umrisse beweglich bleiben werden, hängt von ökonomischen, politischen und kulturell-ideologischen Aushandlungsprozessen ab. Ich plädiere deshalb dafür, dass wir an einer eigenen Sprache und eigenen sozialen Formen arbeiten, in denen wir uns in diese gesellschaftliche Bedürfnisinterpretation einmischen.
Iris Nowak ist Redakteurin von ak - analyse und kritik. Zuletzt erschient von ihr: "Schreiben über Liebe in der Familie", in: Das Argument 273, Heft 5/6 2007.
Anmerkung:
1) Was sich u.a. an dem Artikel von Hagen Kopp "Globale Soziale Rechte on Tour" in ak - analyse & kritik Nr. 526 nachvollziehen lässt. Auf diesen beziehen sich folgende Ausführungen.