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ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 584 / 21.6.2013

Dimensionen der Differenz

Diskussion Ein Gespräch über Critical Whiteness und antirassistische Politik zwischen Vassilis Tsianos, Juliane Karakayali, Sharon Dodua Otoo, Joshua Kwesi Aikins und Serhat Karakayali

Moderation: Jan Ole Arps und Romin Khan

Juli 2012. Das NoBorderCamp in Köln endet in politischer Lähmung. Der Grund ist eine Kontroverse darüber, ob und wie weiße AktivistInnen zu einem antirassistischen Kampf beitragen können. AktivistInnen unter anderem von der Gruppe Reclaim Society, die sich inzwischen aufgelöst hat, hatten unter Berufung auf Konzepte der Weißseinsforschung oder Critical Whiteness gefordert, weiße AktivistInnen sollten sich auf die Auseinandersetzung mit ihrem eigenen Rassismus konzentrieren und ansonsten die Politik der von Rassismus betroffenen »People of Color« (PoC) unterstützen. Bereits im Vorfeld des Camps hatte es Auseinandersetzungen um ein geplantes »Stoppzeichen« gegeben, mit dem PoC als rassistisch empfundene Redebeiträge unterbrechen können. Auf dem Camp eskalierte der Konflikt, eine politische Verständigung war nicht mehr möglich. (Unterschiedliche Darstellungen über den Ablauf gibt es unter anderem von der Gruppe No Lager Bremen, nicht näher benannten NoBorder-AktivistInnen und von Christian Jakob in der Jungle World.

Schon direkt im Anschluss äußerte sich Vassilis Tsianos in einem Jungle-World-Interview zu den Vorfällen auf dem Camp. Unter dem Titel »Decolorise it« veröffentlichten Juliane Karakayali, Vassilis Tsianos, Serhat Karakayali und Aida Ibrahim kurz darauf eine ausführliche Kritik an diesen Praktiken in ak und kritisierten auch die Rezeption von Critical Whiteness in der antirassistischen Szene. Der Text sorgte für scharfe Reaktionen in einigen Blogs (etwa hier und hier; die Debatte in ak brach nach einer Replik von Artur Dugalski, Carolina Lara und Malik Hamsa und zwei Beiträgen von Hannah Wettig und Lann Hornscheidt zu Möglichkeiten und Grenzen politisch korrekter Sprache aber ab.

Anlass, sie wieder aufzunehmen, sind die hitzige öffentliche Diskussion über rassistische Ausdrücke in Kinderbüchern in diesem Frühjahr und der Eklat bei einer Podiumsveranstaltung zu diskriminierender Sprache (»Meine Damen und Herren, liebe N-Wörter und Innen«), auf dem taz.lab im April in Berlin. Moderator Deniz Yücel hatte dort nach Publikumskritik am exzessiven Gebrauch des Wortes »Neger« die Fassung verloren und herumgeschrien. Podiumsgast Sharon Dodua Otoo von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) und zahlreiche BesucherInnen verließen daraufhin aus Protest die Veranstaltung.

Der Eklat hatte ein heftiges Nachspiel im Netz, so etwa hier, hier und hier. Auch Sharon Dodua Otoo und Deniz Yücel stellten die Ereignisse aus ihrer Sicht dar - wobei sich Letzterer bei seiner Argumentation gegen Critical Whiteness auf den ak-Artikel »Decolorise it« berief -, die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (ISD) veröffentlichte eine Stellungnahme, auf der ISD-Homepage ist auch ein Briefwechsel zwischen Sharon Dodua Otoo und der taz-Redaktion zu finden.

Vielleicht begünstigen die öffentlich inszenierte Veranstaltung und die Auseinandersetzung via Blogbeitrag und Zeitungsartikel den Modus des Schlagabtauschs und erschweren die Verständigung. Angeregt von Mitgliedern der Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland haben wir deshalb TeilnehmerInnen der Diskussion eingeladen, um zu klären, ob eine Verständigung über die politischen Differenzen möglich ist. Fazit: teilweise.

ak: Letztes Jahr haben sich Jule, Vassilis, Serhat und Aida Ibrahim in einem ak-Artikel kritisch mit Critical-Whiteness-Ansätzen in der antirassistischen Szene auseinandergesetzt. Kwesi, was stört dich an dem Text?

Joshua Kwesi Aikins: Ich kritisiere, dass der Artikel Critical Whiteness zu eng fasst. Die analytische Perspektive, nicht nur diejenigen in den Blick zu nehmen, die von Rassismus negativ betroffen sind, sondern auch die, die davon profitieren, hat eine lange Geschichte. Die Darstellung im Artikel verkennt diese Geschichte, sie verkennt schwarze Theorieproduktion in Deutschland, wie sie etwa May Ayim oder Katharina Oguntoye repräsentieren, und sie verkennt auch die produktiven Effekte des Ansatzes. Ich hätte mir deshalb gewünscht, dass eine Kritik an den Praktiken auf dem NoBorderCamp letztes Jahr auch fragt, was an dem Ansatz produktiv ist, anstatt das Kind mit dem Bade auszuschütten.

Jule, Vassilis, Serhat, ihr schreibt, Critical Whiteness richte den Blick auf die Strukturen und Mechanismen, die Weiße privilegieren. Was ist daran falsch?

Juliane Karakayali: Wir kritisieren die Konstruktion von zwei Gruppen, bei denen das Privileg der einen das Leid der anderen ist. Wir stellen die Frage, ob diese Denkfigur uns in der politischen Analyse und Praxis weiterbringt, oder ob sie beides eher behindert, weil man sich dann nur noch entscheiden kann, welcher Gruppe man den Sieg wünscht.

Serhat Karakayali: Ich frage mich: Warum wird etwas, was alle haben sollten - Zugang zu Wohnungen, zu Jobs, die Möglichkeit, angstfrei auf die Straße zu gehen - als Privileg beschrieben? Ich verstehe zwar die Absicht dahinter. Aber ich will eigentlich das Feld des Rassismus so fassen, dass gemeinsame Interessen denkbar sind, anstatt die Positionierungen des Rassismus weiterzuschreiben. Ich möchte Rassismus in einer Weise thematisieren, die sich auf Widerstandspraktiken gründet, auf Praktiken des Kampfes gegen Rassismus. Denn wenn es den antirassistischen Widerstand nicht gäbe, würde es anders aussehen in Deutschland. Und an diesem Widerstand sind viele Leute beteiligt, von denen AnhängerInnen der Critical Whiteness sagen würden: Die haben aber Privilegien.

Sharon Dodua Otoo: »Privileg« ist für mich erst mal ein Arbeitsbegriff. Ich zum Beispiel bin Britin. Ich habe einen EU-Pass, ich brauche kein Visum, ich kann arbeiten, ich kann Hartz IV beziehen. Migranten aus Nicht-EU-Ländern haben dagegen klare Benachteiligungen. Wenn ich über deren Situation reden will, ist es mir wichtig, das zu reflektieren und mich auf deren Expertise zu beziehen. Ich kann nicht für andere Leute reden. Das Wort »Privileg« ist ein Mittel, um zu verstehen, was ich habe, was ich für selbstverständlich nehme. Wenn ich in einer Situation privilegiert bin, muss ich besonders hellhörig und sensibel werden für die Leute, die genau dort marginalisiert werden.

Joshua Kwesi Aikins: Jule, Serhat, ich denke, eure Aussagen passen nicht zusammen. Ihr sagt, es gibt Gruppen, die durch Rassismus konstruiert werden, deshalb müssen wir darüber reden können. Das heißt aber auch, diese Privilegien sind Teil der rassistischen Dynamik. Sowohl auf individueller als auch auf struktureller Ebene gibt es ein weißes Privileg, auch in Deutschland.

Vassilis Tsianos: Sind das weiße Privilegien oder deutsche Privilegien?

Joshua Kwesi Aikins: Sie überschneiden sich, sind aber nicht dieselben.

Vassilis Tsianos: Exakt. Und wo sind wir? Die Millionen Schwarzköpfe in Deutschland?

Joshua Kwesi Aikins: Rassismus legt immer eine Einteilung in zwei Gruppen nahe, funktioniert aber anders, schon weil wir beide in Deutschland unterschiedliche rassistische Erfahrungen machen. »People of Color« (PoC) ist ein Sammelbegriff, um politische Koalitionsmöglichkeiten von Leuten zu beschreiben, die auf unterschiedliche Weise von Rassismus betroffen sind.

Sharon Dodua Otoo: Vassilis, du sprichst von »Schwarzköpfen«, oft sprecht ihr auch von »Migranten«. Ich möchte erklären, warum ich den Begriff »People of Color« statt »Migrant« benutze: Ich bin in Deutschland Migrantin. Das ist aber nicht der Grund, weshalb ich rassistisch diskriminiert werde. Ich werde nicht Opfer von Racial Profiling, weil ich aus Großbritannien bin, sondern weil ich als »Schwarz = Afrika« verbucht werde. Für mich muss es ein Vokabular geben, das dies genau erfasst, damit wir, wenn wir über Diskriminierung reden, wirklich über die gleichen Sachen reden. Nicht alle Migranten sind PoC, und nicht alle PoC sind Migranten.

Juliane Karakayali: Was wäre ein Beispiel für ein weißes Privileg? Ich würde gern klären, ob der Begriff mehr sagen kann, als wenn man es Rassismus nennt.

Joshua Kwesi Aikins: Zum Beispiel das Privileg, nicht von Racial Profiling betroffen zu sein, bei der Wohnungssuche nicht benachteiligt zu werden ...

Juliane Karakayali: Der Ausschluss bei der Wohnungssuche ist in meinen Augen etwas anderes als Racial Profiling. Knappe Ressourcen wie Wohnung und Arbeit werden unterschiedlich verteilt, und die Leute haben aufgrund von Rassismus unterschiedliche Zugänge zu ihnen. Racial Profiling kann man nicht so beschreiben, denn es wird nicht eine bestimmte Menge Kontrolle zwischen weißen und schwarzen Menschen aufgeteilt. Natürlich ist Racial Profiling eine rassistische Praxis. Aber anders als bei der Wohnungs- oder Jobsuche profitieren weiße Personen nicht umgekehrt von diesen Kontrollen. Hier macht die Gegenüberstellung für mich keinen Sinn, man kann nicht von einem Privileg sprechen, nicht kontrolliert zu werden.

Joshua Kwesi Aikins: Ich denke schon. Wenn ich mich in einer Gruppe aus Leuten mit und ohne weiße Privilegien aufhalte, gibt es zwangsläufig unterschiedliche Erfahrungen und Möglichkeiten, die sich uns auftun. Wenn Privilegien für dich ein Nullsummenspiel sind, haben wir ein unterschiedliches Verständnis. Es gibt nicht nur die materielle, sondern auch eine symbolische Dimension, bei der die Rechnung anders funktioniert.

Serhat Karakayali: Wir reden über zwei Begriffe, die offenbar miteinander verknüpft sind: Privilegien und PoC. Der Begriff PoC scheint mir vor allem insofern problematisch zu sein, als in ihn die sichtbare Hautfarbe eingebaut ist. Wenn man sich die Geschichte des Rassismus in Europa ansieht, stößt man schnell auf Beispiele, die völlig ohne Hautfarbe als Marker in der Praxis des Ausschlusses auskommen, den Antisemitismus zum Beispiel. Aber mir geht es vor allem um einen anderen Punkt: Vor Kurzem bin ich bei einer Taxifahrt mit der Fahrerin ins Gespräch gekommen, und sie sagte: Weißt du was, ich komme aus dem Osten, und vieles von dem, was du gerade gesagt hast, kenne ich auch, das trifft auch auf mich zu. Und das Erste, was ich denke, ist: Spinnst du? Wir trauen uns nicht mal da rüber wegen der Nazis, also was erzählst du da! Aber in einem Punkt hat sie Recht, nämlich dass sie in Bezug auf die Mehrheitsgesellschaft Ausgrenzungs- und Marginalisierungserfahrungen gemacht hat. Ihr erinnert euch vielleicht an den Gerichtsprozess um eine Bewerbung, bei der die Personaler »Ossi« an den Rand geschrieben haben. Das Gerichtsurteil damals lautete: Das ist keine rassistische Diskriminierung, weil »Ossis« keine ethnische Gruppe sind. Natürlich sind Ostdeutsche nicht PoC. Trotzdem kann ich diese Erfahrung nachvollziehen, sie verstehen und vielleicht solidarisch sein. Oder aber ich kann das Trennende betonen. Das ist eine Entscheidung.

Joshua Kwesi Aikins: Ich würde es auch nicht Rassismus nennen, was weiße Menschen mit ostdeutscher Sozialisation erfahren, aber ich stimme zu, dass es da spezielle Formen von Diskriminierung und Ausschluss gibt. Gleichzeitig gibt es Unterschiede, die du ja selbst siehst. Ich bin im Märkischen Viertel in Westberlin aufgewachsen, buchstäblich im letzten Block vor der Mauer, und habe den unglaublichen Anstieg rassistischer Gewalt nach der Wende selbst erlebt. Neben der verfehlten pseudoantifaschistischen Deckelung in der DDR war ein wichtiger Aspekt für den Anstieg des Rassismus die massive Abwertung der Leute aus dem Osten als rückständig und dumm - und plötzlich gab es die Distinktionsgelegenheit via Rassismus, also die Möglichkeit, sich in die westdeutsche Gesellschaft zu integrieren, indem man andere Leute, sogenannte »Ausländer« und wen man dafür hält, rassistisch abwertet. Diesen Prozess hat W.E.B. Du Bois beschrieben: Rassismus in westlichen Gesellschaften bietet Menschen, die am unteren Ende der gesellschaftlichen Hackordnung stehen, symbolische Distinktion an und verhindert, dass diejenigen, die unten sind, gemeinsame Sache machen und sich solidarisieren. Das Urteil, auf das du hinweist, dass eine erlittene Diskriminierung kein Rassismus ist, weil die Betroffenen keine »ethnische Gruppe« bilden, gibt es übrigens leider für schwarze Menschen in Deutschland auch. Mit dieser Begründung lehnen das Innen- oder Justizministerium jedes Mal Anfragen dazu ab, wie viele schwarze Menschen von dieser oder jener Form von Rassismus betroffen sind.

Vassilis Tsianos: Ich will jetzt, dass wir aufhören mit dem Argument, es gehe nicht um Hierarchisierungen. In diesem Zimmer haben einige besonders wichtige Erfahrungen mit Rassismus, und andere, wie die Weißgesichter hier, haben wichtige Erfahrungen in einem antirassistischen Kampf mit uns. Deshalb gehe ich davon aus, dass wir eine gemeinsame Sprache haben. Du sagst die ganze Zeit, dir geht es nicht darum, die Erfahrungen der von Rassismus Betroffenen zu hierarchisieren, aber es geht um die Differenz. Die Differenz interessiert mich nicht. Mich interessiert die Frage, wie analysieren wir Rassismus in Deutschland. Analysieren wir Rassismus auf der Ebene des Kontinuums von »schwarz« und »weiß«, wie ihr das macht? Oder analysieren wir Rassismus in Deutschland unter der Fragestellung, was ihn unmöglich macht? Nämlich die Präsenz der antirassistischen, migrantischen und postkolonialen Subjekte in der Geschichte der rassistischen Formation in Deutschland.

Joshua Kwesi Aikins: Du vereinfachst unsere Position und lässt es so aussehen, als könnte man nur das eine oder das andere tun. Ich denke aber, dass man beides machen kann.

Der Ausgangspunkt für die Kontroverse war doch, dass in der antirassistischen Szene eine Dynamik der Selbstpositionierung und Hierarchisierung unterschiedlicher Rassismuserfahrungen dazu geführt hat, dass diese Szene im eigenen Saft schmort, handlungsunfähig wird und gesellschaftlich nichts mehr bewirkt.

Joshua Kwesi Aikins: Ja, sehr unproduktiv.

Sehr unproduktiv, genau. Mir geht es aber nicht darum zu sagen, es muss immer alles konstruktiv sein. Es gab andere Auseinandersetzungen in der deutschen Linken, wo solche Zäsuren wichtig waren. Deshalb würde mich interessieren: Wie müsste ein anderer Umgang damit deiner Meinung nach aussehen?

Joshua Kwesi Aikins: Bestimmte Dynamiken in Bezug auf die Analyse von Rassismus verlaufen anders, wenn Leute wahrnehmen, dass Rassismus nicht etwas ist, was nur mich als schwarze Person betrifft, sondern dass auch weiße Privilegien eine Rolle spielen. Das ist dann produktiv, wenn daraus folgt, dass man sich zum Beispiel bemüht, nicht nur meinem Erleben, sondern auch meiner Analyse davon auf eine andere Art und Weise zuzuhören. Nämlich mit dem Verständnis, das ist eine Ressource, zu der eine weiße Person keinen direkten Zugang hat. Ein Beispiel wäre die Kampagne zur Umbenennung von Straßennamen, die die Kolonialgeschichte verherrlichen oder rassistische Bezeichnungen fortschreiben, etwa im »Afrikanischen Viertel« in Berlin-Wedding. Die Kampagne zielt nicht darauf ab, hier und da mal ein Straßenschild umzuschrauben, sondern es geht um einen Perspektivwechsel in der Erinnerungspolitik. Ein sehr kontroverses Thema dabei ist die Frage nach dem Verhältnis der Shoah zu anderen Holocausten.

Vassilis Tsianos: Zu anderen Holocausten?

Joshua Kwesi Aikins: Ich verwende die Begriffe so ...

Vassilis Tsianos: Nee, nee, nee, stopp! Wenn du ein Deutscher wärst, hätten wir ein Problem!

Joshua Kwesi Aikins: Für mich ist der Begriff Holocaust keine Einzelbezeichnung für die Shoah mit ihren Spezifika, sondern wurde historisch auch für andere Massenvernichtungen verwendet. Mir ist die Frage nach den Verbindungslinien zwischen diesen kollektiven Gewalterfahrungen wichtig.

Vassilis Tsianos: Das ist Liberalismus auf der Ebene der Theoriebildung! Das ist die Konsequenz dieser Haltung, dort, wo es Singularitäten gibt, Kontinuitäten herzustellen.

Joshua Kwesi Aikins: Moment, man kann nicht einfach Singularität so voraussetzen, dass man die Frage nach den Verbindungslinien nicht mehr stellen kann. Aus meiner Sicht gibt es viele klare Verbindungslinien von Deutsch-Südwest-Afrika: ideologische, persönliche ...

Vassilis Tsianos: Das ist die Grenze! Die Singularität der Shoah ist die absolute Grenze dessen, was man in Deutschland verhandeln kann. Daran gibt es nichts zu rütteln. Die Deutschen wollen die absolute Freiheit davon: 70 Jahre, super, tschüss! Nein! Sechs Millionen maschinell, fabrikartig getötete Juden - das ist einmalig in der Weltgeschichte. Absolute Singularität, unverhandelbar.

Joshua Kwesi Aikins: Ich will nicht an der Singularität der Shoah rütteln. Die Zuspitzung entweder Singularität oder Kontinuität führt zu einer Hierarchisierung und blendet wichtige Aspekte aus. Wenn ich sage, man kann das Dritte Reich nicht verstehen, ohne deutsche Kolonialgeschichte mitzubedenken, fangen schon die Singularitätsreflexe an. Ein Beispiel: Vor einem halben Jahr habe ich auf einer Veranstaltung in Berlin mit Siegfried Benker diskutiert, einem langjährigen grünen Stadtrat aus München, der dort Straßenumbenennungen vorangetrieben hat. Er hat dafür gesorgt, dass eine Von-Trotha-Straße umbenannt wird in Hererostraße. (1) Für andere Straßen hat er Kommentare verfassen lassen, ganz ähnlich wie die Berliner Straßeninitiative, bei der ich mitmache. Aber in der Art, wie wir es machen, haben wir klare Unterschiede. Zum Beispiel hätte ich es besser gefunden, wenn man die Person von Trotha ersetzt hätte durch eine Person des Widerstands und nicht durch eine Gruppe. Es gibt aber noch eine tiefere Kritik, und darüber haben wir uns sehr gestritten auf dem Podium - sehr zur Verwunderung von Herrn Benker. Der Kommentar zur Swakopmunder Straße - in Swakopmund stand eines der ersten und größten deutschen Konzentrationslager in Namibia - ist in einer vermeidenden Sprache formuliert: Es gab einen »Aufstand«, und dann wurde ein »Internierungslager« eingerichtet. Darauf habe ich gesagt: Es war kein Aufstand - das ist Kolonialsprache, aus der Perspektive der Kolonialisten war es ein Aufstand -, sondern ein Befreiungskrieg. Und es war kein Internierungslager, sondern es gab vom Reichskanzler den Befehl, ein »Konzentrationslager« zu errichten. Er sagte, nein, das könne er nicht zulassen wegen seiner Verantwortung für die Singularität des Holocausts an den Juden. Er war überrascht, dass ich so ein Fass aufgemacht habe. Was das jetzt mit Critical Whiteness zu tun hat, sieht man an den Publikumsreaktionen. Diejenigen im Publikum, die älter waren als 35, 40 Jahre, haben gesagt, ja, der Herr Benker hat natürlich Recht. Und die Jüngeren haben gesagt, nein, sie als weiße deutsche Person sehen das so und so, es muss »Konzentrationslager« heißen. Sie haben eine Sprecherposition eingenommen, die sich der Dynamik ungleicher Machtverhältnisse auch im Feld von Wissen und Geschichtsanalyse bewusst ist.

Serhat Karakayali: Aber warum muss man das sagen?

Joshua Kwesi Aikins: Weil es darauf verweist, dass genau diese Theorie sie dazu gebracht hat, die Hierarchisierung im Feld des Wissens auf diese Weise wahrzunehmen.

Juliane Karakayali: Ich verstehe einfach nicht, an welchem Punkt das an dein Schwarzsein oder ihr Weißsein gebunden ist.

Joshua Kwesi Aikins: Es geht um Erkenntnisräume, die qua individueller und kollektiver Erfahrungen nicht allen in gleicher Weise offen stehen. Wenn ich feministische Theorie reflektiere und auf der Basis aktiv werde, hat das eine ähnliche Bewegung. Natürlich kann ich das verwenden, auch wenn ich keine Frau bin. Aber ich muss reflektieren, dass es für mich als männlich sozialisierte und dadurch privilegierte Person Erkenntnisbarrieren gibt.

Serhat Karakayali: Jetzt ist die Frage: Was passiert, wenn ein Weißer kommt und sagt: Ich teile das nicht, der Begriff »Konzentrationslager« ruft hier im heutigen Kontext andere Assoziationen hervor. Im damaligen historischen Kontext war das der originale Begriff. Aber heute denken wir an Auschwitz, wenn wir »Konzentrationslager« lesen. Dann sagen Leute unter Verweis auf das Critical-Whiteness-Argument: Das sagst du nur, weil du diese Erkenntnisbarriere hast. Damit wird ausgestrichen, was ich an Argumenten vorbringe.

Joshua Kwesi Aikins: Da liegt genau der Unterschied. Unsere Position ist nicht essenzialistisch. Deshalb machen wir auch Koalitionsangebote und Bildungsarbeit. Ich bin davon überzeugt, dass es produktiv ist, Leuten diese Erkenntnisressource anzubieten. Aber es geht nicht nur darum, das Wissen anzubieten, sondern auch diese Hierarchisierung zu thematisieren, um zu erkennen: Diese Hierarchie ist von Kolonialität geprägt.

Vassilis Tsianos: Ich kann das alles unterschreiben, was du erzählst. Es erinnert mich selbstverständlich an meine eigene Erfahrung in den 1980er Jahren, als wir Kanaken angefangen haben, von Rassismus in Deutschland zu reden. Die sozialdemokratischen älteren Herren haben gesagt: Hört auf damit, ihr desingularisiert den Holocaust. Wir können in Deutschland nicht von Rassismus reden, Rassismus ist verbunden mit dem Holocaust. Und was ist mit uns? »Ausländerfeindlichkeit«, »Xenophobie«, »Vorurteile«. Wir haben dafür gekämpft, dass wir den Begriff des Rassismus auf unsere Situation anwenden. Deshalb würde ich auch nie dein Projekt diffamieren. Ich glaube aber, wir haben eine andere Genealogie des antirassistischen Wissens. Wir können darüber diskutieren. Aber identitätspolitische, mit weißen oder schwarzen Masken verkleidete Leute zwingen uns, eine falsche Diskussion zu führen: Ob Critical Whiteness gut oder schlecht ist. Für mich ist Critical Whiteness ein produktiver Teil des globalen antirassistischen Wissens, es reflektiert eine bestimmte Erfahrung, die mit der Postkolonialität und der schwarzen Diaspora zu tun hat. Die Art und Weise, wie ich Rassismus sehe, fängt mit dem Zweiten Weltkrieg an. Aber dann lass uns die Diskussion nicht so führen, wie sie uns aufgezwungen wird, von denjenigen, die sehen wollen, ob wir uns letztendlich abfackeln. Wir sollten einen eigenen Raum der Rassismusdiskussion in Deutschland entwerfen, der uns nicht vorgeschrieben wird von diskursiven Automatismen und Reflexen.

Joshua Kwesi Aikins: Du hast es gerade gesagt: Die gucken jetzt, ob wir uns abfackeln. Ich habe den Eindruck, dass sowohl dein Jungle-World-Interview, Vassilis, als auch euer ak-Text verwendet wurden, um die Fackeln anzuzünden: »Kanak Attack hat's ja gesagt.« Für weiße Deutsche ist es super wertvoll, wenn wir uns untereinander zerfleischen. In der Berliner Kulturpolitik wurde euer Artikel so rezipiert. »Endlich haben wir ein paar Argumente, mit denen wir uns diese nervigen schwarzen Leute vom Hals halten können.« Großes Aufatmen. Ich hätte mir gewünscht, dass einiges von dem, was du gerade gesagt hast, in beiden Texten vorgekommen wäre.

Vassilis Tsianos: Super, dann machen wir es.

Juliane Karakayali: Nein, ich möchte widersprechen! Ich möchte noch mal zu dem Beispiel von der Straßennamenveranstaltung zurück, mit dem ich überhaupt nicht einverstanden bin: Das, was du da auf dem Podium vertreten hast, ist eine Analyse, zu der du kommst, weil du dich kritisch mit historischen Zusammenhängen in Bezug auf den Kolonialismus beschäftigst. Dass du selbst schwarz bist, mag deine Motivation sein, das zu tun. Wenn weiße Deutsche darüber nachdenken, wie sich Erinnerungskultur verändern muss, dann ist die veränderte Zusammensetzung der Gesellschaft, die Anwesenheit schwarzer Menschen natürlich ein Grund dafür. Aber es ist keine Folge der Idee: Wir sind die Weißen, ihr seid die Schwarzen, ein bestimmter Erfahrungsraum produziert eine bestimmte Subjektivität, und nur deshalb können wir uns zum Beispiel in dieser Straßenumbenennung auf diese Weise positionieren. Für mich ist es ein Spaltungsproblem, dass man die politischen Analysen und die theoretischen Zugänge an die Herkunft der Menschen bindet.

Serhat Karakayali: Jule hat Recht. Subjektivität entsteht im Kampf, nicht aus deiner Position in der Gesellschaft. Das war in der Geschichte der Arbeiterbewegung so, und es ist im Antirassismus so. Du kannst politische Analysen und Erkenntnisse nicht allein aus den Lebensbedingungen ableiten und sagen, es ist wirklich deine Hauptfarbe, es ist wirklich dein Einkommen.

Joshua Kwesi Aikins: Aber das sagt ja keiner.

Serhat Karakayali:Da bin ich nicht so sicher, wenn wir über Erkenntnisbarrieren sprechen.

Joshua Kwesi Aikins: Es geht um eine Erkenntnisressource, es geht nicht darum, zu sagen: Weil du das nicht bist, hast du für immer keinen Zugang dazu. Die Ressource garantiert auch keine automatisch richtigen Erkenntnisse, man muss darüber kommunizieren. Aber ihr macht daraus einen Theoriefehler. Ihr schreibt, »Critical Whiteness dreht sich von Anfang an im Kreis«. Das tut sie nicht. 100 Jahre schwarze Theorieproduktion, die den Blick auch auf weiße Privilegien lenkt, drehen sich nicht im Kreis, weil irgendwo Leute damit verkürzt und unproduktiv agieren.

Vassilis Tsianos: Moment, du kannst nicht W.E.B. Du Bois und alle möglichen anderen Leute einfach vereinnahmen als Critical Whiteness. Es gibt einen Unterschied zwischen Critical-Whiteness-Theorieproduktion und Black Experience im Kontext von Black Atlantic, das ist wirklich eine viel größere, reichere Erfahrung.

Ich würde gern noch mal zur materiellen Realität des Rassismus zurückkommen. Wir haben vorhin kurz darüber gesprochen, dass in Klassengesellschaften der Rassismus soziale Ungleichheit legitimiert ...

Joshua Kwesi Aikins: Ja, hierzu gibt es eine sehr interessante Studie, deren Ergebnisse die Initiative Schwarze Menschen in Deutschland jetzt veröffentlicht. Diese Studie untersucht, wie schwarze Menschen im deutschen Schulsystem speziell negativ betroffen sind. Das Ergebnis: Unterhalb des Gymnasiums wiegt Rassismus für Menschen mit afrikanischen Bezügen häufig schwerer negativ, als Klassenzugehörigkeit in Bezug auf den Bildungshintergrund der Eltern positiv wirkt. Das ist deswegen bemerkenswert, weil seit der Pisa-Studie Letzteres als wichtigster Erfolgsfaktor im deutschen Schulsystem gilt. Ich möchte deshalb in zwei Berliner Bezirken am übergang von der sechsten zur siebten Klasse den Bildungsverbleib untersuchen - und zwar mit verschiedenen Rubriken von Selbstkategorisierungen. Ich oder meine Tochter sind nämlich anders von Rassismus betroffen als türkischstämmige oder asiatische Deutsche. Und genau darüber hätte ich gern Daten. Die Daten über schwarze Menschen werden aber nicht gesondert erhoben.

Juliane Karakayali: In meinen Augen ist das Problem einer Erhebung, wie du sie vorschlägst, dass sie so tut, als könnte man die Gruppen tatsächlich so feinsäuberlich voneinander trennen, wie es auch das Phantasma der Segregation tut.

Joshua Kwesi Aikins: Die Kategorien müssen flexibel sein und in Abstimmung mit den Communities ausgehandelt werden, aber sich dahinter zu verstecken, dass es essenzialisierend wäre, die Zahlen zu erheben, bedeutet, dass struktureller Rassismus einfach nicht beweisbar ist in seiner Differenziertheit und in seinen Effekten. Und das ist das Gegenteil von Empowerment.

Vassilis Tsianos: Eine Sache ist mir heute klar geworden. Ihr sagt, unsere Argumente werden von denjenigen benutzt, die nur darauf gewartet haben, endlich vom Rassismusvorwurf befreit zu werden. Dazu möchte ich denen sagen, die sich durch unseren Text ermächtigt fühlen, im Namen der kritischen Rassismusanalyse den Ort der schwarzen Erfahrung im rassistischen Kontinuum Deutschland zu missbrauchen oder zu negieren: Wir weisen das absolut zurück! Critical Whiteness gehört zum Kosmos der kritischen Rassismusanalyse dazu. Trotzdem sind bestimmte Aspekte der Critical-Whiteness-Theorieproduktion und Praxis problematisch. über den Begriff des Privilegs haben wir angefangen zu diskutieren. Der Begriff der Dominanzverhältnisse ist ebenfalls problematisch. Wir haben also eine Spannung innerhalb der kritischen Rassismusanalyse in Deutschland. Ich hoffe, ihr habt umgekehrt verstanden, warum wir unsere Intervention gemacht haben. Vor allem mein Interview in der Jungle World hatte eine Fatwa-Funktion. Ich wollte die Leute unterstützen, mit denen ich - nicht ohne Konflikte - jahrelang antirassistische Politik gemacht habe. Mein Motiv war, die real existierende Anwendung von Critical Whiteness zu kritisieren, die die transnationale NoBorder-Zusammenhänge zerstört. Denn das ist eine Ideologie der Diskurshygiene.

Joshua Kwesi Aikins: Ich habe das verstanden. Trotzdem habe ich euer Schweigen danach als unsolidarisch empfunden, es hat den falschen Leuten geholfen.

Vassilis Tsianos: Ich habe von den Auseinandersetzungen um den Text überhaupt nichts mitbekommen. Zwei Blog-Texte habe ich gelesen, das war's. Ich mache Veranstaltungen zu Rassismus überall in Deutschland, auch in Berlin. Keinerist gekommen! Nicht mal eine Mail hat uns erreicht. Wir leben in unterschiedlichen Diskursen. Ich habe keine Zeit, mir stundenlang Websites anzusehen, ich stelle mich der Debatte, aber die Leute diskutieren nicht. Meine Konsequenz daraus ist: Wir brauchen neue Formate, in denen wir miteinander diskutieren können. Es geht nur durch sich treffen, streiten, Sachen tun.

Habt ihr eine Erklärung dafür, wieso die Diskussion zum Beispiel auf dem NoBorderCamp letztes Jahr überhaupt so heftig geführt wurde, wieso diese Art der Rezeption so einschlägt?

Juliane Karakayali: Ich glaube, dass ein Grund darin besteht, dass es anstrengend ist, politische Konflikte zu bearbeiten. Und um einen politischen Konflikt geht es ja. Viele Leute versuchen dann, es »polizeilich« zu lösen, durch die Frage, wer darf zu welchem Thema etwas sagen, wer hat am meisten Recht. Das ist ein sehr bequemes Vorgehen, denn es ist einfach, durch solche Rechnereien das Gefühl zu erzeugen, auf der richtigen Seite zu stehen im Sinne der möglichst kritischsten Position. Eine ähnliche Dynamik hatte bisweilen auch der Konflikt um antideutsche Positionen. Aber in diesem Vorgehen verschwindet das Politische: sich miteinander auseinandersetzen, Konflikte austragen, gemeinsame Deutungen entwickeln, die eine Weile tragen. Und bequem ist es auch deshalb, weil am Ende daraus keine Politik folgen muss.

Wenn ihr die ständige Reflexion über Privilegien als unproduktiv beschreibt, wie sollte man es anders machen?

Serhat Karakayali: Es muss eine Möglichkeit geben, daraus nicht identitäre Zuschreibungen abzuleiten. Identitäten und Positionen sind undynamische Begriffe, solche Begriffe stellen die Dynamik der Veränderung still. Mir geht es darum, dynamische Begriffe zu erzeugen, mit denen wir eine Veränderung denkbar machen.

Joshua Kwesi Aikins: Ich denke weiterhin, dass diese Reflexion wichtig ist. Vielleicht ist das auch ein Beitrag zur Frage nach der Heftigkeit der Diskussion: Es gibt sozialwissenschaftliche Studien, die sich empirisch mit der Dynamik der Leugnung beschäftigen, wie die von Philomena Essed oder speziell für den deutschen antirassistischen Kontext »Rassismus wider Willen« von Anja Weiß. Es gibt das Modell von Paul Gilroy: Wenn ich dir eine Unterdrückungserfahrung schildere und du bist privilegiert, dann weist du das erst mal zurück. Ich insistiere, und irgendwann fühlst du dich schuldig, weil du siehst, dass du auf der anderen Seite des Privilegs bist. Die Schuld wandelt sich in Scham, du erkennst: Oh, der Unterschied ist relational. Und irgendwann erkennst du vielleicht an, was ich sage. Daraus sollten sich dann »Reparationen« ergeben - was auch symbolische Reparationen einschließt, nämlich die Anerkennung einer anderen Perspektive auf diese geteilte Geschichte. Diesen Ablauf erlebe ich selbst immer wieder. Durch die Rezeption von Critical Whiteness gibt es inzwischen viel öfter produktive Diskussionen darüber als noch vor ein paar Jahren.

Serhat Karakayali: Ich bin nicht einverstanden, dass diese Sicht auf rassistische Strukturierungen und Erkenntnisbarrieren erst mit diesen Konzepten möglich ist. Da gibt es noch eine ganz andere Geschichte, die sich das auch historisch anders anschaut. Ich möchte das mit einem Zitat des Black-Panther-Aktivisten Bob Lee aus Chicago veranschaulichen, der 1968 mit Blick auf die Rainbow Coalition der 1960er Jahre (2) sagte: »There's nothing wrong with the process of building pride in yourself, your community, your culture and people. However, some people got stuck in that phase and never moved beyond it. Rainbow coalition was just a code word for class struggle.« Das Zweite: Ich war vor einer Weile auf einer Postcolonial-Studies-Konferenz an der Humboldt Universität in Berlin. Dort sagte eine Professorin sinngemäß: »Ich will, dass meine weißen deutschen Studentinnen sich richtig schlecht fühlen, damit die mal sehen, wie das ist.« Diese Konzepte gibt es auch in Awareness-Trainings. Scham und Schuld sind aber grotesk-wahnsinnige Ansatzpunkte, um etwas, was progressiv, emanzipatorisch, fortschrittlich sein soll, hervorzubringen. Scham, Schuld und vor allem Angst führen immer in die Reaktion, wir brauchen etwas anderes. Du sagst, es ist nicht deine Strategie das hervorzurufen, es entsteht durch Abwehr. Aber letztlich reden wir über einen ganz kleinen Kreis von Leuten, die antirassistische Szene. Wir reden gar nicht über Leute, die überhaupt kein Problem damit haben, sich rassistisch zu äußern. Und da ist diese Strategie für mich ein Missverhältnis, ich finde sie unproduktiv, weil wir damit nicht die Leute erreichen können, die wir gewinnen müssten, um diese Gesellschaft vom Rassismus zu befreien.

Sharon Dodua Otoo: Für mich ist das ein Missbrauch, wenn manche Leute das so auslegen, wie ihr beschreibt. Ich muss pragmatisch zurück zu meiner Situation als schwarze Mutter in Deutschland. Wenn es um die Kinderbuchdebatte geht und ich mich dazu äußere, werde ich von der Mehrheitsgesellschaft nicht als Expertin wahrgenommen, sondern höchstens als »Betroffene«. Deswegen ist es wichtig, dass Leute aus verschiedenen Positionen die Kinderbuchdebatte kritisieren. Wenn ich mich als schwarze Frau positioniere, wird mir vorgeworfen - das lese ich in den Kommentaren -, dass ich mich als Opfer konstruieren will, dass ich immer klagen und weinen will. Ich benutze »schwarze Frau« aber als politische Selbstbezeichnung, um mich auf eine Widerstandsgeschichte mit anderen schwarzen Frauen zu beziehen und in diesem Kontext weiter zu agieren. Ich arbeite politisch gern mit anderen zusammen, aber ich will wissen, mit wem ich arbeite. Die politische Positionierung ist für mich ein Code, um zu erkennen, wer die Leute sind, ob ich mit ihnen eine gemeinsame Sprache habe.

Joshua Kwesi Aikins: Mir fällt immer wieder auf, dass ihr unsere Position monolithisch konstruiert. Zum Beispiel, Serhat, wenn du sagst, das muss auch anders gehen. Du gestehst zu, dass ich nicht absichtlich auf Schuld und Scham abziele. Ich denke auch nicht, dass man Schuld und Scham empfinden muss, um einen Erkenntnisprozess in Gang zu setzen. Diese Abwehrreflexe sind aber oft da, zum Beispiel wenn ich sage, dass es sich bei den Lagern in Namibia um Konzentrationslager handelt. Die Abwehrreaktionen kommen daher, dass es Teil des deutschen identitären Selbstverständnisses ist, gute Aufarbeitung geleistet zu haben. Und wenn ich dann die Geschichte verkompliziere, indem ich sage, in Bezug auf den deutschen Kolonialismus gab es keine Aufklärungsarbeit, merken die Leute: Oh Gott, jetzt habe ich aber nicht alles getan, was ich tun muss, um ein guter Deutscher zu sein. Dann schlagen die Emotionen hoch, aber ohne dass ich pädagogisch darauf hingewirkt hätte. Das andere ist: Ich denke, man kann Identitätspolitik auch nicht rundweg ablehnen. In Deutschland erkennen viele Leute Rassismus nicht als Struktur an. Sie individualisieren und entschuldigen ihn. Vor diesem Hintergrund ist die Konstruktion von Kollektivität als Schwarze oder PoC - und darin gibt es identitäre Momente - ein wichtiger Bestandteil von Empowerment.

Sharon, du schreibst in einem Artikel (3), dass schwarze Kulturproduktion in einem weißen Kunstumfeld immer nur als Korrektiv der als Norm geltenden weißen Kulturproduktion wahrgenommen wird, und stellst die Frage, wie wir zu einem Raum kommen können, in dem schwarze Kulturproduktion nicht auf diese Rolle festgelegt ist. Aber ein Raum jenseits des Bezugs auf die unsichtbare weiße Norm - kann es den überhaupt geben?

Sharon Dodua Otoo: Ich würde sagen: Solange die Norm nicht benannt wird, solange es Leute gibt, die sich als »Leute« verstehen und nicht als weiße Männer, die die Ressourcen haben und Kunst produzieren oder darüber entscheiden, was als Kunst gilt, haben schwarze Künstler kaum Möglichkeiten, da reinzukommen. Aber wenn weiße Kunstschaffende sagen, wir haben eine bestimmte Perspektive, es gibt aber verschiedene Perspektiven, die uns interessieren, und deshalb verteilen wir die Zugänge anders, dann haben wir die Möglichkeit, in einen anderen Raum zu kommen.

Anmerkung:

1) Lothar von Trotha war Kommandant der deutschen Truppen in der damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika (heute Namibia) und gab im Jahr 1904 den Befehl, der als Grundlage des Völkermordes an den Herero gilt.

2) Die Rainbow Coalition war ein antirassistisches Bündnis in den USA, das in den späten 1960er Jahren in Anschluss an die Bürgerrechtsbewegung gegründet wurde. Ihm gehörten etwa die Black Panther Party, die American Indian Movement und die Young Lords (ein Zusammenschluss von US-AmerikanerInnen puertoricanischer Abstammung) an, aber auch Community-Organisationen wie die Young Patriots Organization, die in weißen Armenvierteln aktiv waren und sich mit dem antirassistischen Kampf der Black Power Bewegung solidarisierten. Es ist nicht zu verwechseln mit der Rainbow Coalition, die aus der Wahlkampagne des US-Bürgerrechtlers Jesse Jackson zur Präsidentschaftswahl 1984 entstand.

3) Sharon Dodua Otoo: Correct me if I am (politically) wrong. »Echte« Kunst, Elitarismus und weiße Wahnvorstellungen der Erhabenheit. Erschienen am 3. März 2012 in der Zeitschrift Bildpunkt der IG Bildende Kunst aus Österreich.

Die GesprächsteilnehmerInnen

Juliane Karakayali ist Soziologieprofessorin an der evangelischen Hochschule Berlin, Vassilis Tsianos lehrt Migrationssoziologie an der Uni Hamburg. Serhat Karakayali ist Gastwissenschaftler an der Uni Hamburg. Vassilis Tsianos und Serhat Karakayali waren gemeinsam im Netzwerk Kanak Attack aktiv. Alle drei sind Mitglieder im Netzwerk kritische Migrations- und Grenzregimeforschung. Sharon Dodua Otoo ist Autorin und gibt im Verlag edition assemblage die Buchreihe »Witnessed« heraus. Joshua Kwesi Aikins ist Politikwissenschaftler und Doktorand an der Uni Bielfeld und setzt sich für die Umbenennung kolonialer Straßennamen ein. Joshua Kwesi Aikins und Sharon Dodua Otoo sind aktiv in der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland.